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Blutige Spuren

Blutige Spuren

Titel: Blutige Spuren
Autoren: Jörg Liemann
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kifft und säuft und hurt. Aber das mache ich nicht, weißt du. Das hätte keine Poesie. Ich bin weg von all dem. Es sind die Enttäuschungen, die mich davon weggebracht haben. Ich habe sie alle, wie sie da sind, sie alle habe ich geliebt. Und sie haben mich alle so sehr enttäuscht. So ist das. So ist das einfach. «
    » Sie haben mir das erzählt: Ihr Mann, Ihr Freund, Ihr ehemaliger Kollege, Ihr Stiefvater, Ihre Mutter … Und jetzt? «
    » Du hast eine sehr schöne Stimme, weißt du das? Du hast wirklich eine sehr schöne Stimme. Sie ist einfühlsam und ruhig. Ich glaube, du bist ein sehr einfühlsamer Mann. «
    Er saß weit zurückgelehnt im Schreibtischsessel, die Augen geschlossen, umgeben von Tabakaroma, und die warme, etwas raue Frauenstimme floss wie Honig seit beinahe zwei Stunden, lähmte über den Telefon-Kopfhörer sein Denken und seine Reaktionen.
    Zuerst schob er es auf die Uhrzeit. Gegen zwei Uhr nachts hatte die Frau angerufen, die sich Linda nannte. Die Zeit, die Dunkelheit, das gleichmäßige Tippeln der Regentropfen auf den Fensterbrettern, das Rauschen in den Heizungsrohren, der in die Augen gehende Qualm aus der Pfeife, das Ausbleiben weiterer Telefonate – alles hatte ihn zu diesem Zeitpunkt schon tief in den Sessel gedrückt …
    Sie erzählte ihm von den Bildern, die sie malte, und von den Professoren, die sie ausgenutzt, aber nicht unterstützt hatten. Mit Ausnahme ihres Exmannes, mit dem sie vor Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, eine Art ekstatischen Farb-Rausch hatte.
    Sie erzählte, wie die Weggefährten von einst ihr heute begegneten – abgeklärt, desillusioniert, zynisch. Ein Mann, den sie einmal bewunderte und der bei einem großen Blatt Chefredakteur geworden sei, hatte sie angegrinst und gesagt, alles Fechten mit der Politik sei nur Spiel. Ein Rollenspiel, das sie nicht ernst nehmen dürfe.
    Für Sternenberg gab es zwei Kategorien von guten Gesprächen bei der Telefonseelsorge. Die meisten hielt er für gelungen, wenn sie innerhalb von zwanzig Minuten abgeschlossen waren. Für gewöhnlich war alles, was darüber hinausging, ohne Nutzen für die Anrufer. Sie neigten nach zwanzig Minuten dazu, die Bilanz des Gesprächs zu verdrängen oder sich in die Lage zurückzureden, in der sie waren, bevor sie die Notruf-Nummer gewählt hatten.
    Die zweite Kategorie war seltener. Wenn sich im Dialog zeigte, dass Anrufer ihre Krise nicht nur erkannten, sondern auch bereit waren, sie zu akzeptieren, und wenn sie dafür offen waren, über den weiteren Weg zu sprechen – der nicht immer ein Weg der Lösungen war –, wenn sie also in der Lage schienen, am Telefon eine Art von Kurztherapie mit ihm durchzuführen, dann nahm er sich gern eine Stunde Zeit. Eine Stunde, nicht mehr. Denn selbst solche hoffnungsträchtigen Unterhaltungen bargen Fallgruben: Sternenberg wusste von sich, dass der Drang, den anderen regelrecht zu analysieren, mit der Gesprächsdauer zunahm. Bei ihm jedenfalls. Und indem er jemanden analysierte, machte er ihn zu einem Objekt der Untersuchung. In der Krisenintervention jedoch kam es ihm darauf an, die Anrufer als Menschen, als Subjekt wahrzunehmen. Denn nur als Subjekt sind die Anrufer nicht einfach das Opfer – also das Objekt der Krise –, sondern sie sind Individuen mit einem Ich, das entscheiden und handeln kann, wenn es will.
    Natürlich bestand auch in kurzen Gesprächen die Gefahr, die Klienten und ihre Situation zu analysieren. Aber immer, wenn er sich Gedanken zu machen begann, was einen Menschen in eine Krise gebracht haben mochte, ob es dafür einen Begriff gab, ein Schema, einen Lösungsweg oder eine Heilungsmethode – immer dann hatte er dem Anrufer nicht voll konzentriert zugehört. Dann war die Chance vertan, in dessen Stimme, zwischen den Worten oder hinter einem Seufzer etwas zu hören, das er nur mit einem unsichtbaren dritten Ohr wahrnehmen und verstehen konnte.
    Das Analysieren war nicht aufzuhalten. Manchmal brauchte er es auch. Doch es erforderte Kraft, den Hang zur Analyse, der ihm als Grundschüler, als Abiturient und als Polizist, vielleicht auch als Mann antrainiert worden war, eine Zeitlang zurückzudrängen.
    Andererseits brachten Beratungsgespräche nichts, wenn die Anrufer länger als zwanzig Minuten nur monologisierten. Bei Linda hatte er nun schon eine 30 in die Kladde gemalt. Eine warnende 30 für dreißig Minuten – ohne dass das Gespräch die übliche Qualität erreichte. Dann eine warnende 60. Keine Rede von einer Kurztherapie. Oder gar
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