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Blut und Harz

Blut und Harz

Titel: Blut und Harz
Autoren: Timo Leibig
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verschwinden konnte. Er würde es nicht schaffen, egal wie gut er in seinem Beruf war. Er konnte nicht zaubern. Vater Jan hingegen schon.
    Seine Entscheidung betraf also nur zwei Optionen: Im Orden leben oder hier und jetzt im Wald sterben.
    »Ich kann mir jeden Namen aussuchen?«
    Die Frage kam vollkommen unerwartet und Natalja blickte ihren Bruder verblüfft an.
    Vater Jan vollführte eine auffordernde Handbewegung. »Es ist deine Entscheidung, Alexander.«
    Dieser nickte langsam und betrachtete nachdenklich den schwarzen Teich als wäre dort die Antwort versenkt worden.
    Sekunden verstrichen.
    Mit pochendem Herzen wartete Natalja gespannt auf die nächsten Worte ihres Bruders. Als sie meinte, es nicht mehr auszuhalten, hörte sie ihn zwei trockene Worte sprechen, die eine Gänsehaut über ihre Arme peitschten.
    »Bruder Azrael.«
    Schweigen legte sich daraufhin wie ein Leichentuch über die Lichtung.
    Erst nach einer gefühlten Ewigkeit brach Burkard erneut das Schweigen.
    »Der Engel des Todes«. Er betonte die Worte, als spreche er mit sich selbst. »Eine bessere Wahl hätte niemand für dich treffen können. Genau das wirst du sein. Der Bringer des Todes. Das ist dein Handwerk und dafür wirst du sorgen. Gleichzeitig wirst du das Schild des Ordens werden. Du wirst Unheil von uns abwenden und uns alle beschützen.
    Bruder Azrael! Willkommen im Orden!«
    Die Worte hallten ehrfürchtig in der eisigen Nachtluft nach. Die beiden ungleichen Männer musterten sich auf Augenhöhe, dann verneigten sie sich voreinander. Natalja fiel dabei ein Stein vom Herzen. Ihr war die Chance geschenkt worden, ihren Bruder doch noch kennen zu lernen. Eine Chance, die sie sich nicht entgehen lassen wollte. Um keinen Preis.
    Als beide ihre Verneigung vollführt hatten, wandte sich Vater Jan wieder zu ihr herum. Seine Augen suchten die ihren und schienen ihr plötzlich bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken.
    »Fünf Brüder hat unser Orden heute verloren.« Seine Stimme schwoll zu einem tiefen Bariton an, intonierte kräftig. Sie erhob sich mächtig über den Teich und erfüllte den Hain bis in den letzten Winkel. »Einer davon war vom rechten Weg abgekommen und einer war verblendet, blind für das grüne Herz.
    Aber dafür konnten wir drei neue Herzen in unseren Reihen willkommen heißen. Alter Wald! Befindet sie für würdig und nehmt sie auf!«
    Ein Wispern brandete durch die Äste und ließ die Oberfläche des spiegelglatten Teichs kräuseln. Dann wurde es wieder still.
    »Sie stimmen zu.« Er zwinkerte. »Das ist gut. Dann lasst die Vergangenheit nun ruhen. Nach meinem Geschmack war es eh schon genug Trostlosigkeit für diesen einen Tag. Wir werden die nächsten Wochen noch genügend Düsternis erleben. Da ist ein Licht in der Dunkelheit immer willkommen.«
    Trotz seiner schwermütigen Worte lächelte der Greis. In diesem Moment wirkte er ganz wie der Großvater, den sich Natalja immer gewünscht hatte: Gütig, warmherzig und voller Liebe.
    Seine weichen Augen ruhten immer noch auf ihr.
    »Einen letzten Namen müssen wir heute noch finden«, fügte er mit sanfter Stimme hinzu und grinste.
    Verwirrt runzelte Natalja die Stirn.
    »Für wen?«
    »Für ein Mädchen.«
    »Aber ich habe mich doch schon entschieden!« protestierte sie.
    »Nicht für dich, verehrte Tochter.« Sein Grinsen schien links und rechts über beide Ohren hinauszuwachsen, entblößte blitzende Zähne. Verständnislos starrte Natalja ihn an. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Elias, der seinen Großvater ebenso verwirrt anblinzelte. Sie spürte seine Hand, die ihre ergriff. Sein Händedruck war sanft.
    »Ich werde also den ersten Namen in das Buch des Lebens schreiben dürfen«, raunte Alexander ehrfürchtig.
    Vater Jan begann herzhaft zu lachen als er die Worte vernahm. »Du scheinst verstanden zu haben, Bruder Azrael.«
    »Was redet ihr-« wollte Natalja fragen, doch Vater Jan unterbrach sie.
    »Verehrte Tochter, in deinem Bauch wächst ein grünes Herz heran. Ja, schaut mich nicht so erstaunt an, meine Kinder! Ihr habt mich schon richtig gehört.« Stolz reckte er sein kantiges Kinn in die Höhe, auf dem hellgraue Stoppeln im Fackelschein wie Kupferdraht glitzerten.
    »Kinderlachen wird bald diesen Hain erfüllen! Das erste Mal seit Anbeginn der Zeit! Du, Elias, wirst Vater. Du, Natalja, wirst Mutter. Du, Azrael, wirst Onkel und ich … ich werde Uropa!«

Der Autor
    Timo Leibig wurde 1985 in Gunzenhausen geboren. Nach dem Abitur begann er ein technisches
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