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BLUFF!

BLUFF!

Titel: BLUFF!
Autoren: Manfred Lütz
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sollte es zugehen bei den Zisterziensern, so wie es Benedikt von Nursia wirklich gemeint hatte, ohne Pracht und Reichtum, wohl aber mit viel Arbeit, vor allem Feldarbeit. Hunderte Zisterzienserklöster entstanden in ganz Europa. Nicht oben hoch auf Bergen wie viele Benediktinerabteien, sondern in fruchtbaren Tälern und Auen lagen die Zisterzen. Und so hatten Mönche aus Himmerod in der Eifel auch im idyllischen Heisterbach, nahe beim Rhein, im Siebengebirge, ein Kloster gegründet.
    Wie überall bei den Zisterziensern, so war auch hier der ganze Tag durch die Gebetszeiten gegliedert. Schon um vier Uhr morgens standen die Mönche im Chor der Klosterkirche vor Gott und sangen die uralten Gebete der Kirche, die Psalmen. Die Zeit war für sie die Zeit Gottes, und die Mönche heiligten sie durch das Gebet. Allgegenwärtig war solchen Menschen die Zeit und die Ewigkeit. Jahrelang also hatte der Mönch von Heisterbach mit seinen Mitbrüdern tagein, tagaus im Chor der schönen Klosterkirche gestanden und Gott gepriesen, Gott, das Alpha und das Omega, den Anfang und das Ende, Gott, den Herrn der Zeit. Für kaum jemanden werden also die Zeit und die Welt so real gewesen sein wie für einen solchen Mönch. Und da passiert das Unglaubliche. Eines Tages geht der Mönch, vom wundervollen Zwitschern eines Vogels verführt, hinaus in den Wald. Der fromme Mann ist in Gedanken und verläuft sich. Schließlich schläft er, auf einem Baumstumpf sitzend, ein. Das Läuten der Klosterglocke weckt ihn, und dem Klang der Glocke folgend, kehrt er in sein Heimatkloster zurück. Er klopft an die Pforte – und es öffnet ihm ein Mönch, den er nie im Leben gesehen hat. Verblüfft schauen beide sich an. Was er denn wolle, fragt der Pförtner. Er wolle zurück in sein Kloster, habe sich ein wenig verlaufen. Er kenne ihn nicht, entgegnet der wackere Pförtner, es fehle auch kein Mönch im Kloster. Das könne nicht sein, sagt der Mönch von Heisterbach, er habe sich doch nur ein wenig verspätet. Und als er in die Kirche tritt, in der gerade die Mönche zum Gebet versammelt sind, erkennt er keinen einzigen von ihnen. Der Abt aber lässt in der Chronik des Klosters nachlesen, und da findet sich aus unvordenklichen Zeiten ein Eintrag, dass eines Tages ein Mönch dieses Namens in den Wald gegangen sei und nie mehr zurückkehrte …
     
    Immer schon scheinen Menschen von dem Gefühl geplagt gewesen zu sein, dass die Welt, so wie sie ihnen vertraut war, sich plötzlich als Bluff erweisen könnte. Immer schon scheinen Menschen Angst davor gehabt zu haben, dass alle Selbstverständlichkeiten mit einem Mal nicht mehr selbstverständlich sind, dass ein Spiel mit ihnen getrieben wird, das sie nicht durchschauen. Da gab es natürlich auch harmlose Varianten, wie den sprichwörtlichen Fürsten Potemkin, der seiner Zarin, der machtvollen Katharina der Großen, auf ihrer Reise zur Krim prachtvolle Dörfer als Kulissen vorgespiegelt haben soll. Doch wenn schon eine großmächtige Herrscherin zum Narren gehalten werden kann, wie noch viel eher dann unsereins durch wen auch immer, wann auch immer, warum auch immer.
    Ahnungen eines solchen Gefühls gibt es schon aus schlichten biologischen Gründen. Jeder, der mal längere Zeit nachts durchgearbeitet hat, kennt dieses Gefühl der leichten Enthemmung und den diffusen Eindruck, dass die Welt irgendwie merkwürdig erscheint, überhell, überplastisch. Die Welt wirkt fremd. Derealisation nennt das die Wissenschaft, und ein solches Erleben ist noch ganz normal und kann jedem zustoßen. Als ich im Studium mal wieder die Nacht zum Tag gemacht hatte, um eine Hausarbeit auf den letzten Metern fertigzubekommen, passierte es mir, dass ich am anderen Tag plötzlich dem Professor gut gelaunt über den Mund fuhr, das aber glücklicherweise gerade noch merkte und im letzten Moment mit ein paar entschuldigenden Bemerkungen die Kurve kriegte. Ich weiß noch, wie ich dachte: Irgendetwas stimmt hier nicht.
    Nicht nur akute Schlaflosigkeit, sondern auch dauernde Machtausübung kann offensichtlich den Sinn für die Realität trüben. Unvergesslich bleibt das namenlose Entsetzen im Gesicht des rumänischen Diktators Nicolae Ceausescu, als er auf den Balkon vor die auf dem Platz versammelten Volksmassen trat und plötzlich von einem Moment auf den anderen gewahr wurde, dass sie ihm nicht wohlorganisiert zujubelten wie sonst immer, sondern wütend protestierten. Ungläubig stierte der Diktator auf sein Volk wie auf eine
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