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BLUFF!

BLUFF!

Titel: BLUFF!
Autoren: Manfred Lütz
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Erscheinung.
    Auch Hitler, als er im Führerbunker seinen eigenen Untergang erlebte, muss sich gefühlt haben wie im falschen Film. Er glaubte an Phantasiedivisionen, die es gar nicht mehr gab, und hielt so lange wie eben möglich die Fiktion seiner Welt aufrecht, die mit der wirklichen Welt schon längst nichts mehr zu tun hatte.
    Ebenso erging es Erich Honecker und seiner Frau, Saddam Hussein, Muammar al Gaddafi. Am Schluss schien ein völliger Realitätsverlust zu bestehen. Und wer erinnert sich nicht an die ratlosen Worte des Massenmörders Erich Mielke, der die Welt nicht mehr verstand und den von ihm Bespitzelten und Verfolgten in der DDR -Volkskammer der Wendezeit zurief: »Ich liebe doch alle Menschen.«
    Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass gerade diejenigen, die reale Macht ausüben, in besonderer Gefahr zu sein scheinen, irgendwann der Realität zu entrücken. Auch in demokratischen Verhältnissen gelingt es kaum einem wichtigen Politiker, den eigenen dringend fälligen Abgang von der Macht würdevoll selbst zu wählen. Die kunstvolle Machtwelt, die sie sich da so lange Zeit selbst eingerichtet haben, erscheint ihnen so real, als könne daneben nichts anderes behaupten, die eigentliche Welt zu sein. Man denke nur an den spektakulären Realitätsverlust von Gerhard Schröder, der im Jahre 2005 nach klar verlorener Wahl im Fernsehen so auftrat, als könne ihm nichts und niemand seine Macht nehmen. Die Geschichte kennt ja tatsächlich kaum zurückgetretene Herrscher wie Kaiser Diocletian und Kaiser Karl V., aber so manchen machtvollen Greis, der, eingesponnen in eine längst vergangene, irreale, nostalgische Welt, verhängnisvolle Entscheidungen fällte, wie Hindenburg, als er Hitler die Tür zur Katastrophe öffnete. Wer nicht merkt, dass er im falschen Film lebt, kann gefährlich werden.
     
    Als Psychiater erlebe ich aber auch die weniger gefährlichen kranken Varianten des Realitätsverlusts: Den Schizophrenen, der im akuten Schub seiner Störung in einer eigenen schillernden Welt aus halluzinierten Phänomenen und wahnhaften Gewissheiten lebt, die außer ihm niemand wirklich nachvollziehen kann, und der nach seiner Gesundung darüber rätselt, wie er in diese fremde Welt, von der er so überzeugt war wie von nichts anderem in seinem Leben, hineingeraten und ihr dann wieder glücklich entronnen ist. Den verzweifelt Depressiven, der in einer düsteren Welt ohne Farbe, ohne Lebendigkeit und ohne Ausweg lebt, dem die Zeit erstarrt scheint, bleiern und schwer und der sich, gesundet, im Nachhinein selbst nicht mehr versteht, wenn er wieder auftaucht aus diesem unheimlichen Reich der Schatten. Da sind die vielen anderen psychisch Kranken, die für eine gewisse Zeit ihres Lebens die Welt ganz anders, leidvoller und jedenfalls so erleben, dass niemand sie wirklich versteht. Wer sagt eigentlich, dass die Welt der Krankheit falsch und unsere gesunde Welt richtig ist? Gilt hier auch einfach das demokratische Mehrheitsprinzip, dass Wahrheit ist, was die Mehrheit denkt, oder hält man es mit dem Autoritätsprinzip: Was die wahre Welt ist, bestimmt der Chefarzt?
    Drogenabhängige suchen absichtlich diesen Kitzel der künstlichen Welten. Sie suchen halluzinierte Gefühle, vielgestaltige farbige Wirklichkeiten, die sie bei Bedarf herstellen wollen und nach denen sie je länger, je mehr unersättlich werden. Auch sie wollen freilich nicht im Horrortrip überrascht werden von befremdlichen anderen Welten, wollen die Theaterdirektoren bleiben im ewigen Karneval künstlicher Gefühle, auf der Suche nach dem herstellbaren Glück, und sinken doch schließlich herab zum ewig suchenden süchtigen Sklaven ihrer einstmals eigenen Inszenierung. Jede Sucht ist auch ein Ausstieg aus der Welt, in der wir alle leben, und manchmal ein Ausstieg für immer, ein Selbstmord auf Raten. Der Film, in dem der Süchtige am Ende lebt, hat mit dem, was unsereins für die Realität hält, nichts mehr zu tun. Ist also seine Welt falsch und unsere richtig?
    Ganz anders als bei psychisch Kranken ist es bei Kindern, deren Geist ja bekanntlich weniger domestiziert ist als der älterer Menschen und die sich daher in ihrer Phantasie ohne weiteres in ganz vielen Welten gleichzeitig heimisch fühlen können. Manchmal stellen sie sich vor, sie wären in Wirklichkeit ein Königskind oder ein anderer bedeutender Mensch, was ihnen aber wegen einer geheimen Absprache niemand verraten dürfe. Für Kinder ist es auch nicht so wichtig, ob die Welt, in die sie
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