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Blinder Passagier

Blinder Passagier

Titel: Blinder Passagier
Autoren: Patricia Cornwell
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sollten Ihre oberschlaue Zunge hüten, Babe, weil ich rangmäßig höher stehe als Sie.«
    Shaw verfolgte den barschen Wortwechsel, ohne einen Ton zu sagen.
    »Soweit ich weiß, werden weibliche Polizisten nicht mehr mit Babe angesprochen«, sagte Anderson.
    »Ich habe noch eine Leiche zu besichtigen«, sagte ich. »Der Weg geht durch die Lagerhalle«, sagte Shaw. »Dann los«, sagte ich.
    Er führte mich und Marino zu einer Tür, die auf den Fluss hinausging. Die Halle war ein riesiger, schlecht beleuchteter, stickiger Raum, in dem es süß nach Tabak roch. Tausende von Ballen lagen in Sackleinen gewickelt auf hölzernen Paletten, Tonnen von Eisenerz und quarzhaltigem Sand standen herum, vermutlich für die Erzeugung von Stahl, sowie Maschinenteile, die nach den Stempeln auf den Kisten für Trinidad bestimmt waren.
    Ein paar Buchten weiter stand der Container an einem Verladedock. Je näher wir kamen, desto stärker wurde der Geruch. Vor der mit gelbem Band abgesperrten, offenen Containertür blieben wir stehen. Der Gestank war unerträglich und durchdrang alles, als wäre jedes Sauerstoffmolekül damit ersetzt worden, und ich zwang meine Sinne, sich jeglicher Meinung zu enthalten. Fliegen hatten sich eingefunden, und ihr unheilvolles Summen erinnerte mich an ein ferngesteuertes Spielzeugflugzeug.
    »Waren die Fliegen schon da, als der Container geöffnet wurde?«, fragte ich Shaw. »Nicht so wie jetzt«, sagte er.
    »Wie nahe waren Sie denn dran?«, fragte ich, als Marino und Anderson zu uns aufschlossen. »Nah genug«, sagte Shaw.
    »Niemand ist reingegangen?« Ich wollte sicher sein.
    »Das garantiere ich Ihnen, Ma'am.« Er hielt den Gestank kaum mehr aus.
    Marino schien völlig unbeeindruckt. Er nahm eine weitere Zigarette und brummte etwas vor sich hin, als er sie anzündete.
    »Also, Anderson«, sagte er. »Das könnte irgendein Vieh sein, Sie haben ja nicht nachgeschaut. Womöglich ein großer Hund, der versehentlich eingeschlossen wurde. Wäre eine Schande, wenn Sie den Doc herbeordert und die Medien in Aufregung versetzt hätten und jetzt herausfinden, dass da drin ein armer alter Hafenköter verfault.«
    Er und ich, wir wussten beide, dass in dem Container weder ein Hund noch ein Schwein oder ein Pferd oder irgendein anderes Tier war. Ich öffnete meinen Koffer, während Marino und Anderson weiter aufeinander einhackten. Ich warf meinen Autoschlüssel hinein und zog mehrere Paare Handschuhe und eine OP-Maske an. Ich brachte an meiner Nikon einen Blitz und ein 28-Millimeter-Objektiv an. Dann legte ich einen 400-Asa-Film ein, damit die Fotos nicht zu körnig würden, und zog sterile Überschuhe über die Reeboks.
    »Wenn es mitten im Juli aus einem verschlossenen Haus stinkt, machen wir's auch so. Wir schauen durchs Fenster. Brechen wenn nötig ein. Vergewissern uns, dass es sich wirklich um einen menschlichen Kadaver handelt, bevor wir den Gerichtsmediziner rufen«, fuhr Marino fort, seinen neuen Schützling zu unterweisen.
    Ich duckte mich unter dem gelben Band hindurch und betrat den dunklen Container, in dem erfreulicherweise genug Platz war, um sich frei bewegen zu können, da die ordentlich, gestapelten weißen Kartons nur ungefähr die Hälfte der Fläche einnahmen. Ich folgte dem Schein meiner Taschenlampe tiefer hinein und schwenkte sie dabei von einer Seite zur anderen.
    Ziemlich weit hinten fiel der Lichtkegel auf eine Reihe von Kartons, die vollgesogen waren mit dem rötlichen Sekret, das verwesenden Leichen aus Nase und Mund läuft. Er folgte Schuhen und Unterschenkeln, und dann sprang ein aufgedunsenes bärtiges Gesicht aus der Dunkelheit. Aus den Höhlen getretene milchige Augen starrten mich an, die Zunge war so geschwollen, dass sie aus dem Mund herausragte, als wollte mich der tote Mann verspotten. Meine Schuhe gaben, wo immer ich hintrat, ein saugendes Geräusch von sich.
    Die Leiche war voll bekleidet und saß in der Ecke, an zwei Seiten von den stählernen Wänden des Containers gestützt. Die Beine waren ausgestreckt, die Hände lagen im Schoß unter einem Karton, der offensichtlich heruntergefallen war. Ich stellte ihn weg und suchte nach Verletzungen, nach Abschürfungen und abgebrochenen Nägeln, die nahe legen würden, dass er versucht hatte, sich einen Weg ins Freie zu bahnen. Ich entdeckte keine Blutflecken auf seiner Kleidung, keine augenscheinlichen Verletzungen, die darauf schließen ließen, dass ein Kampf stattgefunden hatte. Ich sah mich nach Lebensmitteln oder Wasser um,
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