Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blind

Blind

Titel: Blind
Autoren: Joe Hill
Vom Netzwerk:
Außerdem sehe ich in Männerklamotten scharf aus.«
    Und wieder: ein Gefühl des Abscheus und ein Kribbeln auf der Haut. Er wollte nicht, dass sie ihn anzog. Schon dass sie darüber Witze machte, beunruhigte ihn, obwohl er nicht wusste, warum. Er würde ihr nicht erlauben, den Anzug zu tragen. In diesem Augenblick konnte er sich nichts Abstoßenderes vorstellen.
    Und das hieß schon was. Es gab nicht viele Dinge, die Jude so widerwärtig fand, dass er sie nicht wenigstens in Erwägung zog. Er war es nicht gewohnt, Ekel zu empfinden. Vulgarität störte ihn nicht, sie hatte ihm dreißig Jahre lang ein gutes Leben beschert.
    »Bis ich weiß, was ich damit anstelle, bleibt er erst mal oben in meinem Zimmer«, sagte er, wobei er sich um einen beiläufigen Tonfall bemühte, was ihm allerdings nicht ganz gelang.
    Sie schaute ihn neugierig an. Angesichts seiner üblichen Selbstgewissheit war dieses Zaudern ganz untypisch für ihn. Sie zog die Plastikhülle von dem Anzug herunter. Die silbernen Jackenknöpfe funkelten im Licht. Der Anzug war trist, schwarz wie die Federn einer Krähe, aber diese Knöpfe, die etwa so groß wie Vierteldollarstücke waren, verliehen ihm eine Art schlichten Charakter. Mit einer schmalen Krawatte wäre das ein Anzug, den vielleicht Johnny Cash auf der Bühne getragen hätte.
    Angus fing an zu bellen. Ein schrilles panisches Bellen. Mit dem Schwanz auf dem Boden rutschte er auf seinen Hinterbacken rückwärts von dem Anzug weg. Georgia lachte.
    »Der ist wirklich verhext«, sagte sie.
    Sie hielt den Anzug vor sich, wedelte damit hin und her, ging dann auf Angus zu und schwenkte ihm den Anzug vor der Nase herum. Ein Stierkämpfer mit seinemroten Tuch. Während sie ihm immer näher auf den Leib rückte, stieß sie den heiseren, lang gezogenen Schrei eines wandelnden Geistes aus. Ihre Augen leuchteten vor Vergnügen.
    Angus trippelte zurück und stieß an der Küchentheke gegen einen Barhocker, der krachend umfiel. Bon starrte mit angelegten Ohren unter dem alten, blutverschmierten Hackblock hervor. Wieder lachte Georgia.
    »Hör auf mit dem Scheiß«, sagte Jude.
    Sie warf ihm den rotzfrechen, pervers glücklichen Blick eines Kindes zu, das gerade mit einer Lupe Ameisen brutzelte, als sie plötzlich das Gesicht verzog und sich fluchend an die rechte Hand fasste. Sie schleuderte den Anzug auf die Küchentheke.
    Auf ihrer Daumenspitze breitete sich ein leuchtend roter Blutstropfen aus und fiel – pitsch – auf die Bodenfliesen.
    »Scheiße«, sagte sie. »Stecknadeln, verdammte.«
    »Das hast du davon.«
    Sie schaute ihn wütend an, zeigte ihm den Stinkefinger und stolzierte aus der Küche. Jude stand auf und stellte den Orangensaft in den Kühlschrank. Er legte das Steakmesser ins Waschbecken und wischte anschließend mit einem kleinen Handtuch das Blut vom Boden. Und dann fiel sein Blick auf den Anzug, und was es auch war, was er gerade noch hatte tun wollen, er vergaß es.
    Er strich den Anzug glatt, faltete die Ärmel über der Brust, tastete ihn sorgfältig ab. Er fand nicht eine einzige Nadel und auch sonst nichts, woran sie sich hätte stechen können. Er legte den Anzug vorsichtig zurück in seine Schachtel.
    Ein beißender Geruch stieg ihm in die Nase. Er hob den Deckel von der Pfanne und fluchte. Der Speck war angebrannt.
    3
    Er verstaute die Schachtel ganz hinten in seinem Wandschrank und beschloss, nicht mehr daran zu denken.
    4
    Kurz vor sechs ging er noch einmal in die Küche, um Würste für den Grill zu holen, als er in Dannys Büro jemanden flüstern hörte.
    Er fuhr zusammen und blieb wie erstarrt stehen. Danny war vor über einer Stunde nach Hause gefahren. Das Büro war abgeschlossen und hätte eigentlich leer sein müssen. Jude legte den Kopf auf die Seite und horchte angestrengt auf die tiefe, zischende Stimme. Im nächsten Augenblick wusste er, was er da hörte, und sein Puls beruhigte sich wieder.
    Da war niemand im Büro. Was er da hörte, war eine Stimme im Radio. Damit kannte Jude sich aus. Die tiefen Töne waren nicht tief genug, die Stimme selbst klang flach. Töne konnten Formen suggerieren, sie malten ein Bild der Luftblase, in der die Töne sich gebildet hatten. Eine Stimme in einem Brunnenschacht hatte ein tiefes volles Echo, während eine Stimme in einem Wandschrank komprimiert klang, die gesamte Fülle war aus ihr herausgepresst worden. Musik war auch Geometrie. Was Jude im Augenblick hörte, war eine in einen Kasten gesperrte Stimme. Danny hatte vergessen, das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher