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Blick in Die Angst

Blick in Die Angst

Titel: Blick in Die Angst
Autoren: Chevy Stevens
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wir nur, dass die Launen meiner Mutter einem rutschigen Abhang glichen und dass wir nie wussten, wo sie landen würde.
    Die einzige Person, auf die ich mich verlassen konnte, war Robbie, mein drei Jahre älterer Bruder, dem ich überallhin folgte. Er war mein bester Freund, mein einziger Freund, denn wir wuchsen auf einer Ranch auf, und unsere Schulfreunde wohnten meilenweit entfernt. Obwohl wir sehr verschieden waren, ich mit meiner Liebe für Bücher und die Schule, er mit seiner Leidenschaft für Technik und Holzarbeiten, streiften wir stundenlang zusammen durch die Wälder, bauten Forts und spielten Räuber und Gendarm. Robbie wollte zu den Marines, sobald er achtzehn war, aber ich hoffte insgeheim, dass er es sich bis dahin anders überlegen würde. Ich wusste nicht, wie ich ohne ihn überleben sollte.
    Eines Tages im Februar, kurz vor meinen dreizehnten Geburtstag, war mein Vater mit dem Fischkutter unterwegs, und wir fuhren mit meiner Mom zum Einkaufen in den Ort. Robbie wartete im Truck. Mom hatte gerade eine ihrer schlechten Phasen, was bedeutete, dass sie seit Tagen kaum etwas gegessen hatte – und wir auch nicht – und jetzt lustlos ein paar Dinge einpackte: Makkaroni mit Käse, Tomatensuppe, Brot, Erdnussbutter, Würstchen, Hot-Dog-Brötchen, Cornflakes. Ihre glatten, schwarzen Haare, die normalerweise einen seidigen Glanz hatten, hingen matt und strähnig herunter. Mom bekam bereits mit dreißig die ersten grauen Haare, doch sie lebte nicht lange genug, damit sie völlig silbrig wurden. Als ich ebenfalls recht früh zu ergrauen begann, färbte ich mir jahrelang die Haare und fragte mich dabei manchmal, ob ich das vielleicht weniger aus Eitelkeit tat denn aus Furcht, wie meine Mutter zu werden.
    An diesem Tag waren ein paar junge Männer im Laden. Sie trugen verschossene Schlaghosen und weite Hemden im Kaftanstil, Ponchos anstelle von Jacken und komische Strickmützen. Ihre Haare waren beinahe so lang wie die meiner Mutter. Damals, Ende der sechziger Jahre, war es nichts Ungewöhnliches, Hippies in der Stadt zu sehen, und ich war jedes Mal fasziniert von ihnen. Ich blätterte in ein paar Zeitschriften am Tresen, während ich beobachtete, wie meine Mom mit den ernsthaften jungen Männern sprach. Ich war es gewöhnt, dass Männer meiner Mutter ihre Aufmerksamkeit schenkten. Mit ihren blassblauen Augen, dem langen, dunklen Haar und dem von der Arbeit auf der Ranch schlanken Körper zog sie stets die Aufmerksamkeit auf sich, doch dieses Mal schien der Ton der Unterhaltung irgendwie anders zu sein als sonst. Obwohl es draußen kalt war, trugen die Männer Sandalen, und ich konnte nicht aufhören, auf ihre Füße zu starren.
    Ich weiß nicht, was sie zu meiner Mom gesagt hatten, aber als wir nach Hause fuhren, hatte sich ihre vorher düstere Stimmung in ein Hoch verwandelt, und sie bretterte lachend um die Kurven. Ihre Augen waren einen Tick zu strahlend, als sie uns Kinder aufzog und uns »Angsthasen« nannte, weil wir verängstigt daneben saßen. Robbie versuchte, seine Furcht nicht zu zeigen, aber die Knöchel der Hand, mit der er den Türgriff des Trucks umklammerte, waren weiß. Den anderen Arm hatte er um meine Schultern gelegt und hielt mich fest. Es war nicht das erste Mal, dass sie uns auf eine ihrer wilden Fahrten mitnahm.
    Jahre später, als ich Mitte zwanzig war, starb meine Mutter bei einem Unfall. Auf der nassen Straße geriet sie ins Schleudern, verlor die Kontrolle über den Wagen und prallte mit hundert gegen einen Baum. Ich habe den Polizeibericht gelesen, es gab keinerlei Schleuderspuren: Sie hatte gar nicht versucht, zu bremsen. Damals versuchte sie es auch nicht.
    Als wir endlich zu Hause angekommen waren, kletterte Robbie aus dem Truck, und ich rutschte auf wackeligen Beinen hinterher. Mom war bereits herausgesprungen und knallte die Tür hinter sich zu. Wir folgten ihr ins Haus, ein kleines Ranchhaus mit einer Verkleidung aus Zedern-Schindeln, schiefen Fußböden und so vielen undichten Stellen, dass wir bei Regen überall im Haus Eimer aufstellen mussten. Mom stürmte in ihr Schlafzimmer und schmiss Kleider in einen Koffer.
    Robbie fragte: »Mom, was tust du da?«
    »Wir werden von hier verschwinden. Packt eure Sachen.«
    »Machen wir einen Ausflug?«
    »Packt alles ein – wir kommen nicht zurück.«
    Robbie machte ein erschrockenes Gesicht. »Wir können Dad doch nicht einfach …«
    Sie hielt inne und drehte sich zu uns um. »Er lässt uns monatelang allein – ich kann so nicht
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