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Blick in Die Angst

Blick in Die Angst

Titel: Blick in Die Angst
Autoren: Chevy Stevens
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sechzehn war, liefen ihm die Mädchen scharenweise nach – er war hochgewachsen, und von der Arbeit auf unserer Ranch hatte er ordentlich Muskeln. Zerzaustes, schwarzes Haar rahmte sein Gesicht ein, und er trug ständig einen finsteren Harter-Junge-Blick zur Schau, so dass er aussah wie ein schlechtgelaunter Rockstar.
    Mom folgte Joy zu einer der Hütten und winkte mich hinterher.
    »Du hast gesagt, wir müssen erst die Pferde aus dem Anhänger holen«, sagte ich.
    Über die Schulter gewandt antwortete sie: »Das machen wir gleich.« Dann wandte sie sich wieder an Joy: »Für Nadine muss immer alles genau nach Plan gehen.«
    Das stimmte. Ich suchte Trost in Regeln, in der Naturwissenschaft und der Mathematik. Mit einer Mutter, die so launenhaft war wie meine, war ich ständig auf der Suche nach Gewissheiten. Ich blieb neben dem Truck stehen und wünschte, Mom hätte die Schlüssel hiergelassen. Ich mochte das Camp nicht, mochte nicht, wie es roch, diesen bitteren, metallischen Geruch. Denselben Geruch verströmte meine Mutter in ihren manischen Phasen.
    Dann erblickte ich einen attraktiven jungen Mann, vielleicht Anfang zwanzig, der auf einem Holzblock am Rand der Lichtung saß. Die Wintersonne fiel schräg durch die Tannen und verlieh seiner dichten schokoladenbraunen Mähne einen intensiven Schimmer und tauchte seine Gesichtszüge in warmes Licht. Seine dunkelbraunen Augen mit den langen Wimpern hatten einen fast schläfrigen Ausdruck, die Wangenknochen waren hoch und malten Schatten und Mulden auf sein Gesicht. Die Lippen des vollen Mundes wiesen eine perfekte Symmetrie auf, die Mundwinkel waren leicht nach unten gezogen. Er trug ebenfalls einen Vollbart, der etwas dunkler war als seine Haare, außerdem Jeans, eine lohfarbene Cordjacke und ein Lederband um den Hals. Er beobachtete mich, eine alte Gitarre in den Händen, den bestickten Riemen über der Brust. Er lächelte und winkte mich zu sich. Ich wollte beim Truck bleiben und schüttelte den Kopf. Er zuckte die Achseln, zwinkerte mir zu und begann, auf der Gitarre zu klimpern und leise zu singen.
    Jake, der zu meinen Füßen Wache hielt, zockelte zu ihm. Der Mann unterbrach sein Lied und kraulte Jakes Nackenfell. Normalerweise mochte Jake keine Fremden, aber jetzt warf er sich auf den Rücken und wälzte sich am Boden. Der Mann lachte und rieb ihm mit dem Fuß den Bauch. Ich war von Natur aus ein vorsichtiges, misstrauisches Kind. Doch als der Mann den Kopf hob und fragte: »Wie heißt er?«, verließ ich die Sicherheit des Trucks.

3. Kapitel
    Ich versicherte Heather und Daniel, dass Heather hier auf der Station gut aufgehoben sei, und erinnerte sie daran, dass alles, was sie mir erzählten, mir bei der Behandlung helfen würde. Anschließend beendete ich meine Visite und trug meine Notizen in die Patientenakten ein. Die ganze Zeit über versuchte ich, das immer stärker werdende Gefühl von Beklemmung zu ignorieren, ebenso wie die Frage, die sich vehement in mein Bewusstsein drängte.
    Können das tatsächlich dieselben Leute sein?
    Schließlich hatte ich auch alle Termine beim Mental Health Service hinter mich gebracht und machte Feierabend. Jeden Abend, wenn ich von der Arbeit kam, machte ich einen Abstecher zur Pandora Street, wo die Obdachlosen kampierten, und suchte nach der hochgewachsenen Gestalt meiner Tochter Lisa. Sie wurde in diesem März fünfundzwanzig, und ich fragte mich dieselben Dinge, die ich mich jedes Jahr fragte, seit sie mit achtzehn ihre Sachen gepackt hatte: Würde ich sie an dem Tag sehen? Würde sie anrufen? Und im Hintergrund schwang wie immer der noch beängstigendere Gedanke mit: Würde sie ihren nächsten Geburtstag noch erleben? Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, hielt ich den Atem an und fürchtete, die Polizei würde mir mitteilen, dass man ihre Leiche gefunden habe.
    Ich stellte den Wagen ab und schlenderte die Straße auf und ab. Ich musterte die Pulks der Straßenkinder und überlegte, ob deren Eltern wohl auch bis spät in die Nacht wach lagen und sich sorgten. Es war kalt, und ich war müde und hungrig, aber ich zog noch eine weitere Runde um den Block, beäugte unförmige Menschenbündel, die unter schmutzigen Decken schliefen und von denen nur das strähnige, ungewaschene Haar und die zerkratzten Arme zu sehen waren. Hoffnung wogte in mir auf, als ich eine junge Frau sah, gefolgt von einer brennenden Verzweiflung, als ich begriff, dass es nicht Lisa war. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie unüberschaubar die
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