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Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod

Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod

Titel: Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
Autoren: Andreas Winkelmann
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schloss sie die Augen. Sie fühlte, wie eine bleierne Müdigkeit sich ihres Körpers bemächtigte, und hatte plötzlich Angst, sterben zu müssen.
    Miriam Singer schlug mit ihrer Stirn auf das Lenkrad, wieder und wieder. Die Müdigkeit musste weg, die Bilder mussten weg, das alles konnte doch nicht wirklich sein. Bäume besaßen keine Hände! Bäume konnten nicht nach einem Auto greifen, und Straßen verwandelten sich nicht in Vulkane.
    Unvermittelt pochte es an der Seitenscheibe.
    Hart und fordernd.
    Miriam erschrak, riss den Kopf herum und wich so weit von der Scheibe zurück, wie es in der Enge des Wagens möglich war. Gleißend helles Licht explodierte im Wageninneren, fand ihr Gesicht und steigerte die Schmerzen in ihrem Kopf zu einem wahren Feuerregen heißer Nadelstiche.
    Schützend hob sie einen Unterarm vor ihr Gesicht.
    »Nein, nicht!«, schrie sie.
    Es klopfte wieder, und das grelle Licht wurde zu einem matten Glimmen.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine dumpfe und verzerrt klingende Stimme, die von allen Seiten gleichzeitig in entsetzlicher Lautstärke in ihren Kopf einzudringen schien.
    Vorsichtig ließ sie ihren Arm sinken und spähte darüber hinweg, bereit, ihn sofort wieder hochzureißen, sollte sie abermals geblendet werden. Doch obwohl eine weitere Lichtexplosion ausblieb, konnte sie nicht viel sehen. Auf beiden Pupillen pulsierten grelle Lichtflecken.
    Die Fahrertür wurde aufgezogen, und ein Schwall kalter Luft schlug Miriam entgegen.
    »Geht es Ihnen nicht gut?«
    Hinter der Taschenlampe zeichnete sich ein großer Schemen ab, der alles hätte sein können: Mann, Frau, Monster, Dämon. Und da in ihrem Kopf alles drunter und drüber ging, glaubte sie an Letzteres.
    »Ich … Ich …«, stotterte sie.
    Der Fremde beugte sich ins Auto. »Ich wollte Sie nicht erschrecken, ich dachte nur … Mein Gott! Sie sehen aus, als hätten Sie einen Herzanfall gehabt. Soll ich einen Rettungswagen rufen?«
    Er klang besorgt, ehrlich besorgt, und Miriams Misstrauen begann zu schmelzen.
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Nein … Ich weiß auch nicht … Ich kann mich nicht bewegen.«
    Sie konzentrierte sich auf das Gesicht, doch es blieb ein undeutlicher heller Fleck im Dunkel. Lichtpunkte tanzten noch immer auf ihren Pupillen, und Tränen verschleierten den kümmerlichen Rest ihrer Sehkraft.
    »Kommen Sie! Steigen Sie aus, und atmen Sie tief durch. Ich helfe Ihnen, kommen Sie!«
    Er löste den Gurt und kam ihr dabei ganz nah. Sie konnte teures, intensives Parfum riechen. Schlagartig wurde Miriam etwas klar: Dies war jetzt der Moment, vor dem sie sich schon immer gefürchtet hatte, für den sie Woche für Woche das harte Training auf sich nahm. Sie war die Beste, der Liebling ihres Trainers, sie war gewappnet und musste sich nicht fürchten … Was für ein Selbstbetrug, was für eine billige Täuschung. Ein plötzlicher Schwächeanfall, eine Erkrankung, was auch immer, und sie war wieder das kleine schutzlose Mädchen, so wie früher.
    Da sie ihre Hand nicht bewegte, griff er einfach zu, umschloss ihr Handgelenk und zog daran.
    »Keine Angst. Ich tue Ihnen nichts.«
    Ein kräftiger Ruck, und schon stand sie neben ihrem Wagen. Der Mann lehnte sie gegen die hintere Tür. Er stand jetzt ganz dicht bei ihr, so dicht, dass sie seinen Atem spüren konnte. Außerdem drückte er sein Becken gegen ihres, vielleicht, damit sie nicht umkippte.
    Vielleicht.
    Miriam wischte sich mit dem Handrücken über ihre Augen, und als sie sie wieder öffnete, zuckte sie zurück. Plötzlich hatte der Mann ein Gesicht! Eines, das ihr vage bekannt vorkam. Aber das konnte nicht sein! Wieso sollte ausgerechnet er …
    »Geht’s wieder?«, fragte der Fremde.
    Das Gesicht verschwand, zurück blieb ein weites, leeres Nichts, das sich mit Schwärze zu füllen begann.
    »Ich … muss mich hinsetzen«, flüsterte Miriam und sank zu Boden. Noch bevor sie den Asphalt berührte, hatte sie das Bewusstsein verloren.
    »Vier von hundert!«
    Die Dozentin, Frau Doktor Barbara Sternberg, legte eine Kunstpause ein. Sie griff nach dem Wasserglas auf dem Tisch vor sich, nippte daran und ließ den anwesenden Zuhörern und Zuhörerinnen genügend Zeit, sich mit dieser Zahl vertraut zu machen.
    »Vier von hundert«, wiederholte sie dann unnötigerweise und, wie Nele Karminter fand, etwas effektheischend.
    Aber es verfehlte seine Wirkung nicht. Große, fragende Augen, Kopfschütteln, Tuscheln und hastiges Notieren sprachen Bände. Nele ließ ihren Blick
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