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Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod

Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod

Titel: Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
Autoren: Andreas Winkelmann
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Kerze nur sehr langsam auflösten. Kleine Kinder hatte sie gesehen, Jungen natürlich, kaum älter als ein paar Wochen. Mit ihren dicken Bäuchen und Babyspeck an den Ärmchen und Beinchen trieben sie wie menschliche Ballons in mit bläulich leuchtender Flüssigkeit gefüllten, großen Glasbehältern, in denen eigentlich Präparate konserviert wurden. Das dicke, gewölbte Glas wirkte wie eine Lupe und ließ sie unnatürlich groß erscheinen. Ihre Münder waren weit aufgerissen, und perlmuttfarbene Luftblasen lösten sich von ihren Lippen, stiegen empor wie Quallen. Darin gefangen waren ihre hilflosen Schreie, die auch dann stumm blieben, wenn die Blasen an der Oberfläche zerplatzten. Am entsetzlichsten aber waren die Augen; so riesig, so verzweifelt, mit einer einzigen Frage darin:
    Warum?
    Ihre immer noch vor der Tür schwebende Hand begann zu zittern. Sie nahm sie herunter, schloss die Augen und presste beide Handballen darauf. Die Traumfetzen waren hartnäckig, sie ließen sich nicht so einfach vertreiben. Nicht, wenn sie weiterhin hier herumstehen würde. Außerdem war das Essen fertig, seit fünfzehn Minuten schon, und der Hackbraten würde kalt werden, wenn sie sich nicht endlich traute zu klopfen. Kaltes Essen konnte er nicht ausstehen.
    Nicola atmete tief ein und aus, und als sie eben die Hand wieder heben wollte, spürte sie einen kühlen Luftzug auf ihren Wangen.
    Sie riss die Augen auf.
    In der geöffneten Tür stand er groß und überwältigend vor ihr, und wie immer schrumpfte sie selbst zusammen unter seinem stechenden Blick. Sein rechtes oberes Lid zuckte einmal kurz – sie wusste nur zu gut, was das bedeutete.
    Mit beiden Händen stieß er sie weg. Sie taumelte zurück, prallte hart gegen die Wand, schlug mit dem Hinterkopf dagegen und hörte ein trockenes Knacken durch ihren Kopf hallen. Den Schmerz nahm sie kaum wahr, denn in die Benommenheit drängte sich machtvoll ein Bild, das alles andere verblassen ließ.
    Denn als er sie gestoßen hatte, war ihr ein Blick über seine linke Schulter hinweg in den Raum hinter ihm gelungen – die Garage lag tiefer als der Rest des Hauses, und er stand auf der unteren von zwei Stufen.
    »Belauschst du mich etwa?«, schrie er, trat in den Flur, zog die Tür hinter sich zu und schloss ab. »Spionierst du mir etwa nach?«
    Nicola wollte ihrem Mann antworten, ihm sagen, dass das Essen fertig war, doch sie war viel zu benommen und wie gelähmt durch den Anblick, der sich wie ein Abbild der Sonne auf ihren Augen festgebrannt hatte.
    Was sie dort gesehen hatte, auf dem ausgeklappten Tapetentisch aus Aluminium … Nein, das konnte nicht sein!
    Sie wünschte, nicht hingesehen zu haben.
    Sie wünschte, sich getäuscht zu haben.
    Ja! Sie hatte sich getäuscht. Ganz sicher!
    Wolkenfetzen wischten am Nachthimmel entlang. Im Hintergrund strahlte ein nahezu runder Mond und ließ die zerfransten Ränder der Wolken messerscharf erscheinen. Sein Licht überzog den ansonsten pechschwarzen Straßenbelag mit der bleichen Farbe alter Knochen. Die Schatten kahler Bäume lagen wie Barrieren darauf, und Miriam Singer steigerte sich in die Wahnvorstellung hinein, ihr kleiner Wagen würde dagegen prallen, sich verformen, der Motorblock würde ihre Beine zerquetschen und sie töten. Alles in ihr sträubte sich dagegen weiterzufahren.
    Sie nahm den Fuß vom Gaspedal, und der Wagen wurde langsamer. Nervös zuckte ihr Kopf hin und her.
    Der Angriff kam überraschend und von allen Seiten. Die Bäume neigten sich zur Fahrbahn hin, riesige Hände griffen nach ihr und kratzten über das Dach des Wagens.
    Ein kreischendes Geräusch schallte durch die Nacht, lauter noch als der Schrei, den Miriam selbst ausstieß. Die Fahrbahn platzte auf, und kleine Vulkane spuckten heißen Asphalt empor, der gegen die Windschutzscheibe klatschte. Risse entstanden, dann breite Klüfte. Verzweifelt riss sie am Lenkrad, versuchte, ihren Wagen zwischen diesen dunklen Löchern hindurchzumanövrieren.
    Was in Gottes Namen passiert hier?
    Kopfschmerz und Schwindel fielen über Miriam her, zusätzlich wurde ihr Gesichtsfeld immer enger, die Straße immer schmaler, bald war sie nicht mehr als ein Grat, zu dessen Seiten tiefe Abgründe lauerten. Ein unmenschliches Geräusch löste sich von ihren Lippen, bevor sie auf das Bremspedal trat und ihr kleines blaues Auto am Straßenrand stoppte. Als der Wagen stand, brach sie über dem Lenkrad zusammen. Weil sie nicht mehr sehen wollte, wie der Wald auf sie zustürzte,
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