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Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Titel: Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I
Autoren: Thomas Gsella
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richtiggehend jubeln: Törö-haha! Thurn und Taxis, ja heiliger Quitschquatsch. Und erst diese ganzen Könige – von so was hielt doch seine Wenigkeit schon überhaupt nichts!
    Sondern im Gegenteil: Er, Paul Müller, 59, geschieden, wohnhaft mit Sohn Benno (33), Mutter (70) und einem weitgehend dement zugelaufenen Hausmeisterehepaar in Duisburg-City, war seit dreißig Jahren BMW -Großhändler für den Raum Duisburg/Oberhausen, aber gleichzeitig und viel tiefempfundener ein überzeugter, ja radikaler Kommunist und seit Neuestem auch Wahrsager. Letzteres zwar nur im Nebenberuf und notgedrungen, seitdem die westruhrgebietliche Hochmittelschicht anno 2006 bis 4/2007 genau ein Auto bei ihm bestellt und tatsächlich gekauft, von den vereinbarten zwölfhundert Raten aber nach Jahresfrist kaum fünf beglichen hatte – zwei bis höchstens sieben Stunden täglich bot er nun auf dem Garagenhof der Autohandlung seinen Zusatzservice an: Kaffeesatz- und Handlesen, Kristallkugel, auf Wunsch auch einfaches Quatschen und Torwandschießen kosteten für Verwandte und Freunde, denen er Sonderkonditionen vorgaukelte, zehn Euro; sonst sechs. So fühlten sowohl die Freunde sich bevorzugt behandelt als auch jene Fremden, die nach Müllers Hinweis auf die unglaubliche und letztlich unhaltbare Günstigkeit seines Stundensatzes: sogar von seinen Nächsten müsse er vier Euro mehr verlangen, dann ebenfalls gern blieben und sich informieren beziehungsweise »vergackeiern ließen«, wie er als dialektischer Materialist und zeitweise gar Trotzkist wohl wusste und sich eingestand.
    Dennoch gab er sich Mühe, ja las an guten Tagen derart fleißig und detailverliebt in Duisburger Lebenslinien herum, dass er begann, sich selbst nicht nur zu glauben, sondern vielmehr zu fürchten, nachdem er seinem eh stotternden Schwager einen extrem brutalen Unfalltod prophezeit hatte: Ein Tanklaster werde ihm von der Gegenfahrbahn aus frontal in die Fresse fliegen und den Kopf abbrechen, aber hallo, da gebe es gar kein Vertun – und auch den ungefähren Zeitpunkt der Tragödie hatte er herausbekommen: im zweiten Halbjahr 2008, so gegen 14.40 Uhr plusminus drei Minuten.
    Heute aber war: Wochenende; und Müller klatschte dreimal kräftig in die Hände: Frühstück! Benno, der die unverhoffte Knackwurst in einem Haps gefressen hatte, trottete zum Herd und setzte Wasser auf. Mutter entkabelte sich, sprang vom Kühlschrank, zog sich etwas an und krabbelte wieder dorthin zurück, wohin sie seit dem Zuzug der Dementen in einem Mix aus Protest und nicht minderer Demenz verzogen war. Allein zu Skat und Schnickschnackschnuck ließ sie sich gelegentlich herab, und auch das eher ungern, weil das Hausmeisterehepaar sich weder wusch noch sonstwie sonderlich in Schuss hielt, seitdem es vor fünf Jahren seine nach Rohrbruch überflutete Erdgeschosswohnung einfach aufgegeben und die Müllers wortlos um Asyl gebeten hatte.
    Frühstück also! Samstag Eiertag! Und bunte Eierlöffelchen – aber gab es eigentlich genug …?
    O nein.
    Mit einem Tatterich, mit einem Zittern wie in Todesangst griff Müller in die Besteckschublade und fingerte. Dann verschwamm ihm die Welt: Die Schublade war leer. Ein heißer, überirdisch starker Wind ergriff ihn, und als es ihn herumwarf, kam die nackte Mutter mit einer brennenden Hellebarde auf ihn zugestampft: »Schon wieder alles vermasselt, du – Lurch!« Ihre Augen flammten rot, schwarz wie der Tod ihr Haar, und aus ihren Ohren krabbelten winzige Kaninchen.
    Kaninchen …???!!!
    »Ha …! Ha …hatsch …«
    Und da erwachte er, immer noch lachend bzw. niesend und offenbar erkältet, »ha … tschi!« Okay: Der Spuk war vorbei und alles wie immer. Es musste über Nacht geregnet haben, und wenn ihn sein Gefühl, seine über Dezennien angesammelte Lebenserfahrung nicht täuschte, lag er bis zum Kinn in einer Pfütze. Es roch nach Wasser, Erde, Sommermorgen und blutrotem Wein. Als er den Kopf wandte, platschte ihm eine Handvoll Regen ins Gesicht. Aha: die Brücke. Sie war undicht.
    Leise setzte Müller sich auf, schöpfte mit der Hand zwei Schlücke Wasser und gähnte wohlig in den jetzt schon warmen Tag. Zu seiner Linken waren Kurti, Bauch und Tonne zu einer vielgliedrigen, gleichfalls patschnassen Skulptur verkeilt und schnarchten wie betäubte Wale. Nur der feine Hennes hatte sich mal wieder tief im Trockenen verbuddelt; kaum armhoch ragte sein zwei Meter langes Bambusluftrohr aus der Erde.
    Na also, dachte Paul und guckte glücklich noch
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