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Blanks Zufall: Roman

Blanks Zufall: Roman

Titel: Blanks Zufall: Roman
Autoren: Christian Sidjani
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immer sitzt, nimmt wieder den Becher in die Hand und trinkt, und schlürft, und trinkt mehr, schwarz und heiß. 
    „Ich weiß, ich weiß, dass ich das nicht kann. Aber ich möchte es. So gerne.“
    „Sie schreiben, ich sei ein Held“, sagt er, „was für ein Schwachsinn. Ein Held? Ein Held stirbt für andere, aber ich lebe, Mama. Ich habe so etwas noch nicht gesehen. Ich bin...“ Er bricht ab. Jedes Wort, dass er nun sagen möchte, führte tiefer und tiefer in letzte Nacht, bis nur noch Blut und Chaos übrig blieben. Und auch wenn jeder von ihnen am Tisch den Tod kennt (Michael verlor seine Frau, als Laura vier Jahre alt war), was für Lücken der Tod hinterlässt und wie er sich über das Leben erhebt, so sind sie doch nicht bereit für das, was Marcus sah und sieht, jetzt wieder, und er verflucht den Irren, den er am liebsten wieder gegenüber stehen möchte, die abgebrochene Flasche stößt er diesmal in den Hals, wieder und wieder, bis Blutfontänen zu seinem eigenen Tod führen. Marcus möchte Rache und er weiß, dass er sie niemals kriegen wird.
    „Hab' ich euch jemals von Efrat erzählt?“ zerschneidet Marcus' Oma die entstandene Stille mit ihrer rasselnden Stimme. Diese Frage steht so unerwartet im Raum, dass jeder ihr Aufmerksamkeit schenkt. „Meine israelische Freundin“, fährt die ältere Dame fort, „mit der ich zusammen in der Grundschule war.“
    „Nein, Oma, hast du nicht“, erwidert Marcus, irgendwie verblüfft, was er überhaupt sagen soll, weil er keinen Zusammenhang erkennt. Er blickt zu seiner Mutter und die schaut ratlos.
    „Ach, wahrscheinlich hab' ich euch nicht von ihr erzählt, weil sie schon so lange in meinem Leben ist, dass sie gar nicht mehr erwähnt werden muss. Efrat und ich, wir schreiben uns auch nur noch ab und an, zu unseren Geburtstagen und zu Weihnachten, auch wenn sie kein Weihnachten feiert. Aber sie ist ja nicht so, meine Efrat, manchmal schenkt sie mir sogar etwas, etwas kleines, aber es ist ja die Geste, die zählt.“ 
    Sie schenkt sich Kaffee nach, aus einer Keramik-Kanne, die sie ihrer Tochter selbst schenkte (und die Claudia nur hervor holt, wenn ihre Mutter zu Besuch kommt; und bis auf Marcus benutzt jeder eine zur Kanne passende Tasse mit denselben, nichtssagenden blau-weißen Bemalungen). Während sie trinkt, tauschen Michael und Claudia einen kurzen, aber eindeutigen Blick, den Marcus mag. Nicht nur, weil er ihre stille Intimität unterstreicht, ihre Vertrautheit, sondern auch, weil dieser Blick nur in gut funktionierenden Beziehungen von beiden Partnern getauscht und verstanden werden kann. Der Blick sagt, sie sind beide ratlos, warum Marcus' Oma die Geschichte von Efrat begann, aber sie werden sie erzählen lassen. Irmi lässt man immer erzählen, denn keine ihrer Geschichten ist so banal wie die unzähligen anderer Senioren, die sich einfach nur gerne an ihre Vergangenheit erinnern.
    Und Marcus beruhigt, dass er sich keine Gedanken mehr über das Gespräch machen muss, was zu sagen ist und was nicht. Sein Gemüt ist wieder geschwankt, von der hilflosen Verzweiflung über die gestrige Nacht zur gegenwärtigen..., was?, Situation? Neutral und harmlos. Im Jetzt, wenn gestern und morgen nicht mehr sind als andere Augenblicke, die noch nicht oder nicht mehr zu erfahren sind. Die Stimme seiner Großmutter lullt ihn ein, so vertraut ist sie seit seiner frühesten Kindheit. Aber nicht das, was sie erzählt. Das weckt ihn auf, lässt ihn erkennen, dass mehr existiert als pure Verzweiflung und dass alles einen Sinn braucht. Durch ihre Worte fühlt er sich verstanden. Vielleicht ist das, was man die Weisheit der älteren Generation nennt.
    „Efrat wohnte nicht immer in Israel“, fährt Irmi fort und auch Laura hört ihr entspannt zu (was selten vorkommt; wie Marcus bemerkt, macht seine Großmutter ihr Angst; vielleicht sind es die Falten und der etwas fahle Geruch, der nicht selten ihrem Mund entweicht, besonders dann, wenn sie einen küssen will). „Eigentlich wohnt sie dort erst seit ein paar Jahren, verbrachte zuvor Jahrzehnte in den USA, die sie nach den Anschlägen verließ, um dem Terror zu entkommen, wie sie sagte, aber anstatt nach Deutschland zurück zu kehren, ging sie nach Israel.
    Ich denke heute, ihr war bewusst, dass sie dem Terror damit nicht entkam, aber zumindest war sie wieder mit dem lebenden Teil ihrer Familie vereint. Ihre Tochter ging schon vor langer Zeit dahin. Dass das alles so kommen würde, wie es letztes Jahr kam, naja, das
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