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Blankes Entsetzen

Blankes Entsetzen

Titel: Blankes Entsetzen
Autoren: Hilary Norman
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aller Macht zurück. »Das stimmt nicht, Jack, hörst du?«
    Er öffnete die Augen. »Aber es ist wahr, Mom.«
    »Es ist nicht wahr«, sagte sie nachdrücklich und hasste Clare dafür, das diese sie der Fähigkeit beraubt hatte, ihren Sohn in die Arme zu nehmen, wo er sie am dringendsten brauchte. »Hör mir jetzt genau zu, Jack. Und du musst mir glauben.«
    »Aber gibst du mir denn nicht die Schuld?«, fragte er.
    »Wie könnte ich dir vorwerfen, dass du versucht hast, mich zu beschützen?« Lizzie nahm den Brief wieder in die Hand. »Selbst dein Vater war deswegen stolz auf dich. Er wusste, dass du im Recht warst.«
    »Aber das liegt nur daran, dass ich bin, wie ich bin«, sagte Jack. »Wegen dem hier.« Er blickte nach unten auf seinen Rollstuhl, auf seine nutzlosen Beine, und seine Tränen wurden erbitterter, wütender.
    »Bitte sag mir, dass du das nicht ernst meinst«, bat Lizzie ihn leise, und all ihr Schmerz sammelte sich zu einer glühend heißen Kugel in ihrer Brust. »Jack, bitte, sag mir, dass es nicht wahr ist.«
    »Er sagte, ich hätte Recht«, erzählte Lizzie ihrer Mutter später an diesem Abend. »Aber ich glaube, das hat er nur gesagt, damit ich mich besser fühle.« Sie hielt inne. »Ich habe das Gefühl, dass Jack wissen will … begreifen will, was in dieser Nacht geschehen ist.«
    »Und in all den anderen Nächten«, sagte Angela, immer noch erschüttert von dem, was Lizzie ihr endlich, nach so vielen Jahren, über ihren perfekten Schwiegersohn Christopher offenbart hatte.
    »Ich werde es ihm nicht erzählen«, sagte Lizzie entschlossen. »Weder jetzt noch sonst irgendwann.«
    »Was ist mit Edward?«
    »Ich glaube nicht, dass er es je wissen will«, sagte Lizzie.
    »Und wenn doch?«
    »Ich weiß es nicht.« Lizzie schwieg einen Moment. »Vielleicht, wenn er mich fragt, wenn er älter ist.« Sie blickte ihre Mutter an. »Jack ist erst zehn Jahre alt«, sagte sie. »Gott weiß, dass er bereits sehr vieler Dinge beraubt wurde. Und es liegt noch mehr als genug Leid vor ihm.«
    »Ich weiß«, sagte Angela leise.
    »Ich will verflucht sein, wenn ich zulasse, dass ihm auch noch das letzte Stück Kindheit geraubt wird«, sagte Lizzie inbrünstig.

119.
    Christophers Beerdigung fand am dritten Montag im November statt, einem Tag, der mit dichtem Nebel anbrach und dann zu einem wunderschönen spätherbstlichen Nachmittag aufklarte. Die Bestattungszeremonie war klein und familiär, aber tief bewegend; Lizzie und Guy Wade hatten sie in Absprache mit den Kindern organisiert. Sophie hatte das Lied »All Things Bright and Beautiful« ausgesucht, Jack »Jerusalem«, weil er wusste, dass sein Vater es geliebt hatte, und Guy trug »Funeral Blues« vor – Edwards Wahl, weil das Gedicht Christopher und ihn bei Vier Hochzeiten und ein Todesfall zu Tränen gerührt hatte.
    »Ich nehme an, du organisierst demnächst einen Gedenkgottesdienst«, sagte Dalia Weinberg hinterher, zu Hause in Marlow.
    »Ich weiß es noch nicht«, sagte Lizzie.
    »Du hast keine Wahl«, drängte Dalia. »Sehr viele Menschen möchten Gelegenheit haben, ihm die letzte Ehre zu erweisen.«
    »Sie werden warten müssen«, kam Guy Lizzie zu Hilfe. »Es hängt ganz von den Kindern ab.«
    Guy hatte sich für Lizzie als Fels in der Brandung erwiesen, nachdem sie beschlossen hatte, sich ihm anzuvertrauen, was die Schwächen seines Bruders betraf.
    »Ich weiß noch, dass er mir irgendwann einmal«, sagte er eines Nachmittags, während Moira auf einer Konzertprobe in London war, »von irgendwelchen Dummheiten mit Drogen in der Uni erzählt hat. Aber ich hätte nicht eine Sekunde lang gedacht, dass er ein echtes Problem hatte.«
    »Jetzt sind alles nur noch Mutmaßungen, nicht wahr?«, sagte Lizzie.
    »Eines weiß ich mit Sicherheit«, sagte Guy. »Seine Liebe zu dir und den Kindern war ehrlich und aufrichtig, Lizzie. Es muss ihn schrecklich geschmerzt haben, zu wissen, dass er dir wehtat.«
    »Vielleicht wäre es besser für ihn gewesen, wenn ich ihn schon vor langer Zeit verlassen hätte«, sagte Lizzie.
    »Ich weiß nicht, ob er das verkraftet hätte«, sagte Guy. »Und wir wissen beide, warum du das Gefühl hattest, bleiben zu müssen.«
    »Aber jetzt müssen die Kinder sowieso ohne ihren Vater zurechtkommen.«
    »Seine Schuld«, sagte Guy. »Nicht deine, Lizzie.«
    »Ich weiß.«
    »Du weißt es doch wirklich ?«, fragte Guy.
    »Manchmal«, sagte Lizzie und lächelte ihn an.
    Zehn Tage nach der Beerdigung, an einem Schultag um die Mittagszeit, kam
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