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Blackbirds

Blackbirds

Titel: Blackbirds
Autoren: Chuck Wendig
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Aber ich weiß, was es ist. Ich weiß, ob es ein Gehirntumor ist oder ein Blutgerinnsel oder eine Hummel, die sich ihren Weg in seine Großhirnrinde gegraben hat.
    Ich weiß auch, wann. Jahr, Tag, Stunde, Minute, Sekunde. Es ist eine rote Pinnwandnadel, die im großen Zeitplan des Universums steckt, und ich kann sie sehen. Die Pinnwandnadel, die ich eigenartigerweise nicht sehen kann, ist das Wo. Der Ort bleibt ein Geheimnis. Abgesehen von visuellen Hinweisen natürlich. Ich sehe den Kopf eines Mädchens auf dem Parkplatz eines McDonald’s explodieren. An der Ecke Straßenschilder wie Arschloch-Boulevard und Flachwichser-Gasse, und sie trägt ein ›Leg dich nicht mit Texas an‹-T-Shirt. Bei sowas kann ich mein Sherlock-Holmes’sches Deduktionsdenken benutzen, um dieses nervtötende Rätsel zu lösen. Oder ich benutze einfach Google. Google ist saugut!«
    »Und, wie lang?«
    »Wie lang was?«
    »Wie lang – äh, wie viel sehen Sie? Eine Minute? Fünf Minuten?«
    »Oh. Das. Na ja. Ich habe mal gedacht, es wäre eine Minute. Sechzig Sekunden auf der Uhr, und los. Stellt sich raus, es ist nicht so viel. Ich scheine zu kriegen, was immer ich an Zeit kriegen soll, falls das irgendeinen Sinn ergibt. Ein Autounfall könnte sich innerhalb von dreißig Sekunden abspielen. Ein Herzanfall oder was immer könnte sich über einen Zeitraum von fünf Minuten entwickeln. Ich sehe, was es mich sehen lässt. Das Sonderbare daran ist, auch wenn ich fünf Minuten vor meinem geistigen Auge sehe, dauert es im richtigen Leben nicht länger als ein oder zwei Sekunden. Ich trete weg, und dann bin ich wieder da. Es ist auf jeden Fall irritierend.«
    Paul runzelt die Stirn, und Miriam kann sehen, dass er ihr trotz der Sache mit seinem Onkel nicht so richtig glaubt. Nicht, dass sie ihm das übel nimmt. Es gibt Momente, auch jetzt noch, in denen sie es selbst nicht glaubt. Die bequemere Antwort ist, dass sie einfach völlig bescheuert ist. Komplett ausgetickt. Ein Schrank ganz ohne Tassen.
    »Sie sind Zeugin der letzten Minuten von Menschenleben«, sagt er.
    »Gut ausgedrückt«, sagt Miriam. »Vieler Menschenleben. Weißt du, wie viele Leute man während des Sommers in der U-Bahn ungewollt anrempelt? Alle mit kurzen Ärmeln? Alles ist Ellbogen, Paul. Tod und Ellbogen.«
    »Weshalb halten Sie ihn dann nicht auf?«
    »Wen aufhalten? Den Tod?«
    »Ja.«
    Miriam gluckst. Es ist das Geräusch von Ich-weiß-etwas-was-du-nicht-weißt. Es bringt die Ironie, dieses freudlose Miststück, zum Ausdruck. Sie tippt sich mit dem Flaschenhals an die Lippen, trinkt aber noch nicht.
    »Warum ich nicht verhindere, dass er eintritt«, grübelt sie über den Flaschenrand. »Nun, Paul, genau da haben wir die letzte – und grausamste – Regel.«
    Sie zieht sich einen Schluck Johnny Walker rein, der ihr die Wangen wölbt, und erklärt.
FÜNF
    Insektenlicht
    Miriam läuft inzwischen seit einer halben Stunde, und die Gedanken, die in ihrem Kopf kreisen, haben sie schon mehrfach überholt. Furchtbare Gedanken laufen furchtbar schnelle Runden.
    Der Mann, der Trucker, der Frankenstein. Louis. Er wird in dreißig Tagen sterben, um 19.25 Uhr.
    Und es wird eine entsetzliche Szene sein. Miriam sieht viele Aufführungen vom Tod auf der Bühne im Innern ihres Schädels. Blut und zerbrochenes Glas und tote Augen bilden die Kulisse ihres Verstands. Aber es ist selten, dass sie einen Mord sieht. Selbstmord, ja. Gesundheitsprobleme, andauernd. Autounfälle und andere persönliche Katastrophen, immer und immer wieder.
    Aber Mord. Das ist ein seltener Fall.
    In einem Monat wird Louis ihren Namen sagen, unmittelbar bevor er stirbt. Schlimmer noch, er sieht jemanden an, bevor das Messer durch sein Auge und in sein Gehirn stößt, und dann sagt er ihren Namen. Er sieht sie dort. Er spricht sie an.
    Miriam geht es im Kopf wieder und wieder durch, und nicht ein Mal scheint es Sinn zu ergeben.
    Sie schreit irgendeine Kreuzung zwischen »Scheiße« und »Ficken« – ganz genau weiß sie es nicht – und unterstreicht es, indem sie einen Brocken kaputten Asphalt vom Seitenstreifen aufhebt und ihn genau in die Mitte eines Ausfahrtsschilds schmeißt. Es scheppert und wackelt.
    Und direkt dahinter sieht sie das Gebäude: Swifty’s Tavern.
    Neonleuchtreklamen für Bier strahlen hell vor dem sturmgepeitschten, spätnächtlichen Himmel. Die Kneipe ist ein einziges, riesiges Insektenlicht, und sie ist die Fliege (fett und vollgefressen von Tod). Sie geht schnurstracks darauf zu.
    Sie
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