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Bitter im Abgang

Bitter im Abgang

Titel: Bitter im Abgang
Autoren: Aldo Cazzullo
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um zu fragen, ob Sie, nachdem Sie mir vergeben und die Absolution erteilt haben, mich vielleicht …»
    «Ich glaube kaum, dass du ein Recht hast, um irgendetwas zu bitten. Wie wär’s, wenn du erst mal mit einer Demutsgeste beginnst. Ich höre.»
    «Pater, eigentlich bereue ich nichts. Ich würde alles wieder genauso machen, vom ersten bis zum letzten Kriegstag. Es gibt nur ein einziges Leben, das mir auf dem Gewissen liegt.»
    Pater Bergoglio ließ ihn reden, ohne nachzufragen.
    «Diese Frau. Virginia. Vielleicht hätte ich sie retten können. Was wir ihr angetan haben, lässt mir keine Ruhe. Aber ich habe alles versucht …»
    «Du hast ihr geholfen, stimmt’s? Du hast versucht, sie zu retten, war es nicht so?»
    «Ja, ich habe es versucht. Und mein armer Bruder auch. Wir haben die anderen angefleht, sie nicht zu quälen. Erschießen vielleicht. Aber nicht respektlos zu behandeln. Aber die Kameraden waren außer sich. Hatten getrunken. Waren weit weg von zu Hause. Es gab kein Halten mehr. Ich hätte mich durchsetzen müssen; immerhin war ich in meiner Heimat. Und sie, sie war eine Frau aus den Langhe, aus unsererGegend. Aber was hätte ich tun sollen? Wir waren die Einzigen, ich und mein armer Bruder Cesare. Und so …»
    «Was, und so?», unterbrach ihn Pater Bergoglio mit der rauen Stimme desjenigen, der lange geschwiegen hat und am liebsten weiter schweigen würde.
    «Ich schwöre, dass ich das nicht gewollt habe. Ich hätte sie lieber gleich getötet. Sie haben mich gezwungen. Ich wollte nicht, verstehen Sie? Und mein Bruder auch nicht, das schwöre ich. Alle standen sie um die Frau herum, mit gezogenem Messer … Es war grauenhaft. Das müssen Sie mir glauben, Pater. Schrecklich.»
    «Ich glaube dir, Vergnano. Ich glaube dir.»
    Lange saßen die beiden schweigend da. Die Kapelle vor dem Beichtstuhl war leer. Die beiden alten Frauen, die in der letzten Bank der Kathedrale gebetet hatten, waren schnell gegangen, als sie den Faschisten hereinkommen sahen, und er konnte von Glück sagen, dass sie nicht losgerannt waren, um ihn anzuzeigen.
    «Bitte vergeben Sie mir, Pater. Wenigstes Sie, verweigern Sie mir nicht die Vergebung. Und Ihre Hilfe.»
    Pater Bergoglio spürte, dass er die Anwesenheit dieses Subjekts nicht länger ertragen konnte. Er begriff, dass Vergnano plötzlich in den Dialekt fiel, um ihn zur Beihilfe zu bewegen. Er beschloss, ihm die desMenschen zu gewähren, jedoch nicht die des Priesters.
    «Jetzt reicht’s, Vergnano. Geh durch die Sakristei und hinten hinaus auf die Via Vida, Richtung Konvikt. Dann hinauf nach Madonna di Como. Dort gibt es einen Priester, der solchen wie dir hilft. Ich werde ihn verständigen.»
    «Danke, Pater. Ich wusste, dass es richtig war, mich an Sie zu wenden.»
    «Du sollst mir nicht danken. Geh jetzt. Es ist besser, wenn man dich hier nicht sieht.»
    «Ich gehe, ich gehe sofort. Aber geben Sie mir noch die Absolution.»
    «Dafür ist keine Zeit mehr.»
    Vergnano begriff. Noch vor ein paar Tagen hätte er auf die Demütigung reagiert. Diesmal jedoch stammelte er nur noch flehentlich: «Pater, die Absolution …» Doch der Beichtstuhl war leer.

32

Alba,
Sonntag, 1. Dezember 1963
    «Du hast es weit gebracht, Milcare, seit du für deinen Vater den Handwagen ziehen musstest …»
    Am Gymnasium war Pater Bergoglio der Lehrer von Amilcare Braida gewesen. Vielleicht war ihm die Geschichte von Kleobis und Biton wieder eingefallen, weil er am ersten Schultag im Morgengrauen zufällig beobachtet hatte, wie Amilcare mit einem Handwagen Fleisch vom Schlachthof zum Laden seines Vaters karrte, wobei er sein Gesicht versteckte, damit er später von seinen Klassenkameraden, den Söhnen von Anwälten und Notaren, nicht wiedererkannt wurde.
    «Ach Pater, sehen Sie nur, wohin mich das geführt hat.»
    «Dahin, wo wir alle einmal enden, Milcare. Auch ich. Und schneller, als du denkst.»
    «Das wird ein schöner Wettlauf zwischen mir und Ihnen.»
    «Nein, Milcare, du musst weiterleben. Du bist nochjung. Du hast noch Anspruch auf ein paar Jahre. Ich werde für dich beten. Aber du musst mir etwas versprechen.»
    Das war also der Grund, weshalb Pater Bergoglio ihn in das Klassenzimmer im Gymnasium bestellt hatte, das für ihn auch am Sonntagnachmittag zugänglich war, zumindest seit er dem Enkel des Hausmeisters eine Anstellung bei Tibaldi verschafft hatte.
    «Was kann ich für Sie tun, Pater?»
    «Wie ich höre, schreibst du an einer Geschichte, die unsere Stadt betrifft.»
    «Mein
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