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Bissgeschick um Mitternacht

Titel: Bissgeschick um Mitternacht
Autoren: Franziska Gehm
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zuckte zusammen, als sie einen ersten Spritzer abbekam. Er landete direkt auf ihrer schneeweißen Nasenspitze. Sie wünschte, sie wäre an einem sicheren, gemütlichen, trockenen Ort wie zum Beispiel dem Hauptfriedhof.
    »Ihr dürft keine Angst haben«, schrie Ludo gegen das Rauschen an. »Schließt die Augen. Konzentriert euch auf die Wassergeister! Hört auf eure Stimmen! " Er streckte die Hände in die Höhe und rief: »Oooolluuuummbaaaa!«
    Widerwillig schlossen Helene, Daka und Silvania die Augen und riefen: »Oooolluuuummbaaaa!«
    Helene fiel auf einmal der ertrunkene Wirt vom alten Bootshaus ein. Ob er wohl immer noch nach seiner unglücklichen Liebe, der Ruderin, suchte?
    Silvania musste plötzlich an den Märchenkönig denken, von dem sie neulich gelesen hatte und der in einem See ertrunken sein soll. Bestimmt war er wunderschön und sein Geist irrte noch jetzt vor Liebesgram im Gewässer umher.
    Daka dachte an den Himbeergeist von Oma Zezci. Sie hatte immer ein Fläschchen davon in der Nähe ihrer Schlafleine in Bistrien stehen.
    Die Flutwelle war nur noch wenige Meter von der Brücke entfernt. Schon umspülten die ersten schäumenden Wellen die Brückenpfosten. Das Rauschen wandelte sich zum Tosen und war ohrenbetäubend laut. Die Gischt schlug den vier Kindern in die Gesichter, die Wassermassen griffen nach ihren Füßen und Beinen, während sich über ihnen eine gewaltige Welle wie ein tonnenschweres Dach wölbte. Es sah aus, als hätte der Fluss sein gefräßiges Maul weit aufgerissen und drohte die Brücke mit Helene, Daka, Ludo und Silvania jeden Augenblick zu verschlingen und zwischen den schäumenden Wellen zu zermalmen.
    »Oooolluuuummbaaaa!«, rief Ludo erneut, doch seine Stimme ging im Tosen der Flutwelle unter wie ein Papierschiffchen im Sturm.
    Auf einmal erklang ein tiefes, ächzendes Knarren. Die Brücke begann sich unter den vier Freunden zu bewegen. Die Wassermassen drückten gegen die Pfosten, drohten die gusseiserne Brücke mit sich zu reißen.
    Helene schrie auf, als der Pfosten auf ihrer Seite der Brücke plötzlich wegbrach und die Brücke nach unten sackte, Richtung wild sprudelnder Bindau. Im letzten Moment hielt sie sich am Brückengeländer fest und zog sich zurück auf den Rest der Brücke, der den Wassermassen noch standhielt.
    Daka, die sich zu ihrer Freundin geflopst hatte, reichte Helene die Hand und zog sie auf die Brückenmitte, auf der auch Ludo und Silvania zusammengekommen waren.
    Voller Verzweiflung sahen die vier Freunde, wie sich die Flutwelle immer stärker über ihnen wölbte. Es war nur eine Frage von Sekunden, dann würde die Welle sie ganz eingeschlossen haben, die Wassermassen auf sie niederstürzen und sie alle samt eiserner Brücke mitreißen.
    Ludo schloss die Augen. Es war zu spät. Er wusste, dass er nichts mehr tun konnte. Er hatte sein Leben und das seiner Freundinnen riskiert. Er hatte das Risiko falsch eingeschätzt. Er hatte sich auf seine übernatürlichen Kräfte verlassen, doch die Flutwelle war stärker. Silvania, Daka, Helene und er würden in den tosenden Fluten ertrinken, wie etliche andere Bewohner der Stadt Bindburg auch. Ihre Leichen würden vermutlich niemals gefunden werd–
    »Da!«, schrie Helene. »Noch eine Flutwelle!«
    Ludo, Daka und Silvania fuhren herum. Helene hatte recht. Aus Richtung Norden, von der anderen Seite der Brücke, brauste eine weitere Flutwelle auf sie zu. Sie war noch größer und rasanter als die Welle, die aus Richtung Süden gekommen war und jeden Moment drohte, über ihnen zusammenzuschlagen.
    »Wir müssen fliegen, flopsen, irgendetwas!«, rief Daka.
    »Zu spät. Wir sind vom Wasser eingeschlossen«, schrie Helene mit verzweifelter Stimme.
    Die neue Flutwelle hatte die Brücke bereits erreicht. Sie schäumte, brodelte und toste. Wie ein Tiger, der einen Satz auf seine Beute macht, schoss sie plötzlich in die Höhe. In dem Moment erkannte Ludo sie. Die Geister. Er sah ihre Gesichter, direkt über sich. Sie bestanden aus Wasser. Es waren zehn, vielleicht auch zwanzig. Gemeinsam bildeten sie die zweite Flutwelle. Ihre Wassergesichter waren blass, ausdruckslos und groß wie Heißluftballons. Mit ganzer Macht stürzten sie sich auf die aus dem Süden entgegenkommende Flutwelle.
    Direkt über der Brücke und über den vier Freunden trafen sich die beiden Flutwellen. Sie schlugen aufeinander wie zwei Killerwale beim Kampf auf Leben und Tod. Die Wassermassen sprudelten, tosten und peitschten.
    Die Wassergeister
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