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Bis zum Hals

Bis zum Hals

Titel: Bis zum Hals
Autoren: Jörg Juretzka
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Wirsing auf dem Acker, doch dann ging er hin und bestellte zwölf Dutzend Hot Dogs oder so was in der Größenordnung, zahlte mit einem Schein, den der Typ am Stand nicht wechseln konnte, ließ den Rest als Trinkgeld da und trug seine Beute davon mit dem gleichen Ausdruck geradezu kindlicher Vorfreude, der mir schon bei Kolya und seinen Kumpels aufgefallen war, wenn es galt, sich den Wanst vollzuschlagen.
     
    Ich ging ihm einfach hinterher und landete im Herzen der russischen Gemeinde von Duisburg, wogend, singend, scherzend, essend, trinkend, rauchend, wenn irgend möglich alles auf einmal, komplett entspannt und komplett entschlossen, eine gute Zeit zu haben.
    Was ich in meinem mittlerweile recht zerrupften Anzug und völlig frei von irgendwelchen MSV-Devotionalien in ihrer Mitte zu suchen hatte, schien kein Thema, ich wurde einfach schleunigst assimiliert, bekam einen Schal umgehängt und einen Hot Dog in die Hand gedrückt und dann noch einen Plastikbecher aus einer Plastikflasche gefüllt, der ich eine Chance von unter eins zu einer Million gab, tatsächlich Wasser zu enthalten, und viel hätte nicht gefehlt, und ich hätte mich dem Spielgeschehen zugewandt wie alle hier, da erblickte ich die sich nähernde, zierliche Gestalt unter der Ferrari-Kappe, und ab da dimmte das komplette Getöse des gesamten Stadions, seiner Lautsprecher, seiner Trommeln, Rasseln, Trillerpfeifen und der beständig zwischen Agonie und Euphorie, zwischen Jubel und Protest pendelnden Lautäußerungen seiner zigtausend Besucher auf einen Level ab, der in Dezibel nicht mehr zu erfassen ist.
    Alles, was ich noch hörte, war der Puls in meinen Ohren.
     
    Sie war in eine über die Schultern geworfene und vorne zusammengehaltene, riesengroße MSV-Fahne gehüllt, ihre Taille nicht zu sehen, und sie erkannte mich erst, als ich dicht vor ihr stand, und schrak zusammen.
    »Kristof!« Sie sah mich an wie eine Erscheinung. »Was … was hast du denn mit deinen Haaren gemacht?«
    Frauen! Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre explodiert, ganz ohne Ladung. Selbst mit einem Bein im Grab, selbst im Begriff, ein Blutbad anzurichten noch für die trivialsten Themen zu interessieren, es ist unglaublich. Und was für eine Antwort erwartete sie? Och, eigentlich wollte ich zum Friseur damit, doch dann hab ich’s mir anders überlegt, die Kettensäge angeworfen und bin da selber bei?
    »Man nennt es den ›Brian-Ferry-Look‹«, antwortete ich, und sie nickte. »Steht dir gut«, fand sie.
    Sie sah völlig verhungert aus, also hielt ich ihr meinen Hot Dog hin, wie man das so macht, und sie schüttelte sich unwillkürlich.
    Schweinefleisch. Ich hätt’s mir denken können. Hastig ließ ich das triefende Ding fallen und befand mich damit in guter Gesellschaft. Die Russen schienen alle nach nur einem oder zwei Bissen das Interesse zu verlieren. Der Boden zu unseren Füßen war jedenfalls jetzt schon in einem Zustand, der wie ein Vorgriff auf die unmittelbare Zukunft wirkte.
    Ich sah wieder hoch, suchte ihren Blick, doch er war in die Ferne gerichtet, unfokussiert.
    Die Leute um uns herum schrien und tobten, heulten, fluchten, jubelten und triumphierten, doch ihre Emotionen erreichten uns nicht.
    »Bleib bei mir«, sagte ich. Sie schüttelte unmerklich den Kopf.
    »Ich möchte, dass du mit mir fortgehst, weg von hier, jetzt gleich. Weit, weit weg. An einen Ort, wo uns niemand findet, wo wir über alles sprechen können.«
    »Ich kann nicht. Es ist zu spät.«
    »Bleib bei mir«, bat ich.
    »Geh weg«, sagte sie. »Dies ist nicht dein Krieg.«
    »Aber es muss auch nicht länger deiner sein! Reicht es nicht, dass Dimitrij tot ist? Musst du jetzt auch noch sterben? Und diese ganzen Leute hier? Was haben die dir getan?«
    »Aber es sind Russen, Kristof!« Sie sagte es, als ob ihr unbegreiflich sei, wie man Russen sehen und sie nicht augenblicklich auslöschen wollen konnte, so wie Taranteln oder anderes, giftiges Getier. Wie Schwarze Witwen, schoss mir der Blickwinkel der Gegenseite durch den Kopf.
    »Wir könnten eine Zukunft haben«, beharrte ich. »Wir könnten leben. Wie ganz normale Menschen. Könnten zusammen schlafen gehen und zusammen aufwachen, zusammen lachen und uns zusammen über das Fernsehprogramm ärgern. Wir könnten träumen und Pläne schmieden und uns bis in die frühen Morgenstunden darüber zanken, ob Noriyuki wirklich der ideale Vorname für unseren Jungen wäre. Wir …«
    » Noriyuki? «
    Ich hatte sie, ich spürte es. Ich hatte sie, und
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