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Bis zum Hals

Bis zum Hals

Titel: Bis zum Hals
Autoren: Jörg Juretzka
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konnte.
    Gleichzeitig sah er immer wieder nach hinten auf unseren ehemaligen Gegenverkehr, und die Aussicht, seine Beteiligung an dieser Aktion schon bald vor denselben Leuten rechtfertigen zu müssen, machte ihn nicht fröhlicher.
    Die Parkplätze rings ums Stadion waren rappelvoll. Das Spiel musste schon im Gange sein, denn nur noch eine Handvoll weiß-blau gekleideter Gestalten wankte trommelnd und grölend außerhalb des Zaunes herum. Ich stoppte in einer Staubwolke vor dem erstbesten Kassenhaus, und augenblicklich kamen gleich mehrere Ordner in Ordnerwesten angestürmt, mich darüber aufzuklären, dass das nicht in Ordnung sei.
    »Du übernimmst«, sagte ich, und Hufschmidt hatte seinen geliebten Dienstausweis schon parat.
     
    »Bleib hier«, befahl ich, kaum dass wir die doppelten Kontrollen hinter uns gebracht hatten. »Eine Evakuierung des Stadions ist ausgeschlossen, also sieh zu, dass deine übereifrigen Kollegen sich bedeckt halten. Wir wollen keine Massenpanik riskieren, oder?« Ich musste schreien, so laut war selbst hier, am unteren Ende des Treppenaufgangs in die Ränge, der momentane Schlachtgesang. »Zebrastreifen weiß und blau«, eine Hymne von überwältigender Schlichtheit.
    Klar, dass er mit rein wollte, suchen helfen.
    »Du weißt doch noch nicht mal, wie sie aussieht. Außerdem muss einer hier alles koordinieren, sollte … tja.«
    Ich bekam es nicht ausgesprochen. Kloß im Hals.
    Hufschmidt legte mir die Hand auf die Schulter. Er blickte feierlich.
    »Viel Glück, Kryszinski.«
    »Danke. Und sollte ich nicht zurückkommen, möchte ich, dass du eins weißt:« Ich sah ihm tief in die Augen. »Ich habe dich immer geliebt.«
    »Ja, kannst du denn nicht einmal ernst bleiben?«, bölkte er mir noch hinterher.
    Die Antwort war nein.
    Ein Stress-Syndrom, nehme ich an, ein Angstventil, diese Ausflucht in Albernheiten.
    Ich erklomm die letzte Stufe, trat vor und erkannte die komplette, idiotische Vermessenheit meines Vorhabens. Unten auf dem Rasen ackerten die Akteure, oben auf den Tribünen lärmten die Anhänger. Zu Zehntausenden.
    Gleich würde es irgendwo knallen, und ich wäre gut beraten, dann aus dem Weg der zu erwartenden Stampede zu sein. Mehr war nicht zu tun, für mich. Gleich würde es irgendwo knallen und die Welt um einen Anschlag reicher sein.
    Ich musste mich regelrecht schütteln, um die heraufziehende, lähmende Depression noch einmal abzuwenden.
    Ein Fan, den wohl nur wohlmeinende Verwandte und eine Reihe von Therapiesitzungen davon abgehalten hatten, sich zusätzlich zu dem Rest seiner Haut auch noch die seines Gesichts in MSV-Symbolen tätowieren zu lassen, wankte an mir vorbei in selbstvergessenem Gesang. Ich packte ihn am Arm.
    »Wo sind die Russen?«, schrie ich ihm ins Ohr. Ein Gefühl sagte mir, dass so was bekannt war unter Vereinsmitgliedern. Im heimischen Stadion.
    »Na, oben«, sprühte er, speichelfeucht und bierdunstig mit der vagesten aller denkbaren Gesten in Richtung Himmel. »In der Wie-Ei-Pie-Loge. Die können doch Geld kacken, die Arschlöcher.«
    Aha. Vereinsinterne Solidarität war wohl doch nicht das, was ich mir immer darunter vorgestellt hatte.
    Ich musste mich insgesamt dreimal als »Hufschmidt, Kripo Mülheim« und im Einsatz befindlich ausgeben, dazu noch meine Fantasiemarke wedeln, um bis zu den Logenplätzen vorzudringen, und völlig vergeblich.
    Hatte ich mich schon gefragt, wie Anoushka es anstellen wollte, da reinzukommen, war alles Gerätsel müßig, denn die Logen waren, wie sich herausstellte, gesperrt. Wegen vermuteter Baumängel. Das Stadion war ganz neu, und Risse in der Konstruktion machten Vorsichtsmaßnahmen und viele, viele Gutachten nötig.
    Ich fragte einen Ordner, wo die Russen wohl stattdessen sein könnten, und wurde dahin verwiesen, wo die Zebrahymne am lautesten schallte, wo das Fahnenmeer am weiß-blauesten wogte, dahin, wo das größte, das dichteste Gedränge herrschte. In die Fankurve.
     
    Ich hätte sie wohl nie gefunden, die verdammten Russen, oder wenn, erst nachdem sie in Fetzen gerissen worden waren, wenn mich nicht ein rasend machendes Durstgefühl an den nächsten Hot-Dog-Stand getrieben hätte. Der Typ vor mir in der Schlange sah genauso aus wie alle anderen hier herum, vielleicht ein bisschen schickere Hose und Schuhe, doch davon abgesehen stinknormal, behangen mit dem übliche Gebammel an allem, was sich in blau-weiße Zebrastreifen färben und den Unbedarften andrehen lässt. Somit also für mich nur ein weiterer
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