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Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte

Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte

Titel: Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte
Autoren: Die Toten Hosen
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eines zweiten Zeugwarts.
    Noch schlimmer aber ist, was mich betrifft, eine dritte Version, die von Gesprächspartnern meiner Eltern gelegentlich ins Spiel gebracht wird. Anständig wirkenden Journalisten pflegt meine Mutter früher oder später die Geschichte eines Schaufelstöckchens anzuvertrauen, das ich im Kindergartenalter jahrelang pausenlos mit mir herumgeführt habe. An dieser Stelle schließt jeder Interviewer messerscharf, daß dieses Stöckchen nichts anderes gewesen sein könne als ein erster Mikrofonständer - und ich also von Beginn an »diese Neigung« in mir gehabt haben müsse. Und als wenn das noch nicht reicht, zieht meine liebe Mutter dann eventuell noch die pikante Erwähnung einer klassischen Trompetenausbildung nach, die ich als Schüler für vier lange Jahre wirklich erlitten habe.
    Abgesehen davon, daß ich in keinem Buch der Welt als ein frühbegabter Neurotiker mit einer seltsamen Fixierung auf einen Schaufelstock festgehalten werden möchte, vermittelt auch diese Version einen falschen Eindruck. Ich war bestimmt nicht begabter als irgendeiner der Franks, Markus’ oder Detlefs, die zur gleichen Zeit in eine Plastikflöte von der Rheinkirmes geblasen haben, mit zwei Topfdeckeln scheppernd durch den Vorgarten rannten oder in der Badewanne krakeelten - deren Mütter aber später nie mehr danach gefragt werden. Wenn ich neben Notenlesen noch irgendeine weitere Fähigkeit auf der Musikschule Mettmann erworben habe, so allenfalls die aus dem Eishockey entlehnte Technik, zwanzig Minuten reiner Spielzeit auf eine Dreiviertelstunde auszudehnen.
    Manchmal sehe ich mich noch in diesem Musikzimmer stehen - ein ratloser Schuljunge mit einer Trompete in den Händen, die er nicht zum Leben erwecken kann. Ich schaue aus dem Fenster, schaue auf die Uhr. So rette ich mich vier Jahre lang über die Runden, weil ich Mummy nicht enttäuschen will. Eines Tages hatte sie mit einem Merkblatt der Musikhochschule vor mir gestanden, das genau sieben Instrumente zeigte. Ich sollte mir eins davon aussuchen, um darauf spielen zu lernen. Ich wählte also die Trompete und brachte es darauf bis zum Einsatz im St. Martins-Zug, aber das war genauso wenig mein Ding wie das Klavier, an dem mein völlig unmusikalischer Bruder Mike bittere Stunden verbrachte. Er wollte viel lieber Hockey spielen, und ich war scharf auf Fußball.
    Heute weiß ich, daß ich den Stunden in diesem eigenartigen Musikzimmer doch einiges verdanke. Als ich später bei einer Band war, konnte ich immer noch Noten lesen. Bei ZK habe ich die Trompete gelegentlich auch wieder ausgepackt (zu hören zum Beispiel auf »Putzfrauen-Song« und »Monika«). Ich weiß dadurch-einfach, was es bedeutet, mit einem Instrument zu arbeiten. Aber damals war es eine Qual. Ich sollte jeden Tag zuhause üben, mindestens eine Dreiviertelstunde lang. Das ging natürlich nur mit Bescheißen. Du bescheißt deinen Lehrer, und du bescheißt dich selbst - und Mom and Dad, die zuhause darauf warten, daß deine musischen Neigungen und deine Persönlichkeitsbildung endlich einen Häuserblock weit vorwärtskommen.
    Das alles war es also nicht. Was aber war es dann? Schuld hat im Grunde mein Bruder John. Von ihm, dem um zwölf Jahre älteren, wurde ich schon sehr früh mit der jeweils neuesten Musik versorgt. John hatte alle Neuheiten aus der Welt der Popkultur immer als erster am Start, ob das Deep Purple waren oder später The Clash. John war der Älteste von uns sechs, und er war der Vermittler zwischen unserem Vater und uns, den Kleinen. Wenn Dad mit uns nicht klarkam, holte er schlimmstenfalls den Gürtel raus. In seinen besseren Momenten holte er sich einen Rat von John. Er sandte seinen Ältesten als Botschafter aus, und der machte sich im Gegenzug zum Anwalt der Kids. Von John bekam ich mein erstes Mikro geschenkt; er wollte, daß ich mich genauso ernst nahm mit meinen ersten Versuchen, wie er es tat. Mit ihm ging ich auf mein allererstes Punk-Konzert.
    Das war im Sommer 1976 in England. Ich war bei der Familie meiner Mutter, die von der Insel stammte, und damit »in the country«. Morgens Cornflakes, mittags grüne Erbsen und Lammfleisch mit Mintsauce und abends fernsehen ohne Limit - alles war »nice« und bald schon ein bißchen öde, auch wenn es am Mittwoch immer zum Cattle-Market in Hols-worthy ging. Einmal den Arm falsch gehoben, und man hatte plötzlich eine Kuh gekauft! Da kreuzte John auf. Er nahm mich nach London mit, und eines Abends ging er mit mir in einen kleinen
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