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Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte

Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte

Titel: Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte
Autoren: Die Toten Hosen
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wollte, wie es jetzt meine Eltern sind. Er sagt, daß ich körperlich ziemlich am Ende bin und »Raubbau« treibe. Raubbau durch zuviel Auftreten, Trinken und Ausfall von Schlafphasen, Raubbau durch die ständige Überdosis Leben. Der Doc sagt auch, daß meine eingerissenen Stimmbänder über kurz oder lang definitiv reißen werden, wenn ich nicht schleunigst anfange, etwas für sie zu tun. Mich »einsingen«, mit Kochsalzlösungen gurgeln, Tinkturen auf die Bänder pinseln usw. »Pflegen Sie Ihre Stimme«, sagt er. »Schließlich leben Sie davon.«
    Ein Arztzimmer in der Hals-Nasen-Ohren-Klinik von Hannover, Mitte Dezember 1988. Ich sitze dem großen weißhaarigen Stimmband-Spezialisten an seinem cremefarbenen Schreibtisch genau gegenüber und lasse meinen Blick durch das Fenster wandern, wo geparkte Autos und eine Ecke vom Klinikpark sichtbar werden. Gestern abend noch haben wir in Bielefeld den vierten Gig unserer winterlichen Monstertournee absolviert, die nun unterbrochen ist. Mit letzter Kraft und einer großen Portion Hilfe durch die Fans, die ich, so oft es ging, für mich singen ließ, habe ich mich aus der Affäre gezogen. Seitdem höre ich gar nichts mehr, wenn ich meinen Schlund aufreiße. Deshalb hat mich Kiki, unser Tour-Manager, hier ins Hospital gebracht. Kiki kennt den Doc; er hat ihn angerufen, weil ich, sechsundzwanzig Jahre alt und Sänger einer Punkrock-Band, momentan völlig am Ende bin.
    Acht Tage liege ich in der Klinik, ohne sprechen zu dürfen. Acht Tage lang je drei- bis viermal ans Inhalationsgerät, drei-bis vier Durchgänge am Atmungsschlauch, regelmäßig das Fieberthermometer unter der Achsel und den Doc vor Augen, der im Abstand von ein paar Stunden vorbeischaut. Der große Spezialist scheint sich für die Idee zu begeistern, daß er hier einen echten Rock’n’Roller für sein Publikum repariert. Einen komischen Kauz aus der fernen Welt riesiger Lautsprechertürme, der irgendwie aus dem Nest gefallen ist und erbärmlich leise um Hilfe kräht. Jeden Abend um acht muß ich an die Leute denken, die irgendwo in Saarbrücken oder sonstwo jetzt gerade vor verschlossenen Eingangstüren stehen und auf das Schild »Konzert fällt wg. Krankheit aus« starren.
    Der Doc zieht meine Zunge wie eine Einlegesohle raus.
    »Jetzt noch mal: Iiiiiiiiii!«
    »Iihhh-«
    »Iiiiiiiiii!«
    »Iihhh-«
    Als Fan bin ich immer in Abgründe gestürzt, wenn ich mich einen ganzen Tag lang auf ein Konzert gefreut habe, das dann am Abend aus irgendeinem Grund platzte. Nun habe ich selbst die Party abgesagt. Ich bin der Linksaußen, der den entscheidenden Elfmeter vergeigt hat; ich bin der Fahrer des quer über der Autobahn liegenden Trucks. Das ist eine Katastrophe, die die ganze Band betrifft, denn natürlich haben wir wegen der gigantischen Beitragssätze keine Ausfallversicherung abgeschlossen.
    Was mir aber mehr zu schaffen macht, ist mein persönliches Fiasko, das dahinter steckt. Nach einem kleineren Stimmbandausfall vor zwei, drei Jahren ist dies nun das erste deutliche Zeichen, daß ich an meiner Art zu leben schleunigst etwas ändern muß.
    Seit ich vor etwa zehn Jahren und fünfhundert Konzerten begann, als Frontman von »ZK« und den »Toten Hosen« auf der Bühne zu stehen - oder von der Hallendecke herunterzubaumeln, oder mit Salto vorwärts in die Menge zu fliegen -habe ich meine Regler immer voll hochgezogen. Ohne mir darüber klar zu sein, lebte ich ständig in dem Vertrauen, daß man das Schlimmste verhindern kann, indem man sein Bestes gibt. Und es war zugegebenermaßen ein geiler Trip, von einer grottenhaft mäßigen Subkult-Combo mit tausend verkauften Singles im Selbstverlag zu einer der erfolgreichsten Bands im deutschen Sprachraum zu werden - und das hauptsächlich durch konstantes Weitermachen und Weiter-So-Sein.
    Aber nur Autobatterien laden sich auf, wenn man die Karre ständig pusht. Menschen, vor allem Sänger, schaffen das über große Zeiträume hinweg nicht. In Hannover sehe ich zum ersten Mal ganz deutlich einen Weg, den weiter runterzubrettern meinen Hals kosten kann. Höchste Zeit, aufs Bremspedal zu steigen!
    »Und: Iiiiiiiii!«
    »Ihh!«
    »Iiiiiiiii!«
    »----«
    Es ist nicht leicht, die Wege einer elektrisch verstärkten Band bis zu den Anfängen zurückzu verfolgen, ohne ständig auf Tretminen eines fertigen Mythos zu trampeln.
    Wir selbst haben immer die Geschichte von den zwei Piz-zas Margherita erzählt, die eines Nachts von zwei hungrigen Typen namens Andreas und Andreas,
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