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Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte

Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte

Titel: Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte
Autoren: Die Toten Hosen
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irgendwann nach Hause kam und meine Chelsea-Platten hörte, hatte meine kleine Lieblingsschwester Lizzy für mein Zimmer ein von den Eltern verhängtes Einreiseverbot (wir spielten gerne Hitparade, Lizzy durfte die Bands raten). Also wieder: Außenseiter! Mummy, die als Engländerin alle Texte bestens verstand, fand das ganze zu destruktiv. Sie hatte Angst, daß mich das kaputtmacht, und nahm es als ihre Aufgabe, mich davon zu befreien. Und wenn das bei mir schon leider nicht richtig funktionierte, glaubte sie, mußte man wenigstens Lizzy vor den Fängen des Bösen bewahren. Es war aber auch zu hart für Mummy: eine englische Künstlerseele mit einem Oxford-Stipendium, die aus Liebe in eine deutsche Küche geriet und dort ihre Begabung verschwendete, die klassische Musik verehrte und im Düsseldorfer Musikverein konzertierte - und ihr Sohn nun aufgesaugt von dieser schrillen Horde der Fertigen!
    Viel später hat meine Ma Konzerte von den Hosen besucht. Dabei ist sie allmählich auf den Trichter gekommen, daß es im Grunde um »ein Ventil« für vieles ging, wie sie sagte, und daß unsere Pogo-Feste auf die Aggressionen der Leute wirkten wie das Erlebnis, an einem Fußballspiel teilzunehmen - auch wenn sie sich über die Randale und die zerschellten Bierflaschen am Bühnenrand entsetzte. Sie hat begeistert mitgearbeitet, als wir für die »Learning English«-Platte Texte übersetzen mußten. Ma ist nämlich in Wirklichkeit völlig großartig. Damals aber sah sie in allem, was wir trieben, sofort das Ende der Welt. Und so hielt es auch Daddy, der eines Tages in der Mittagspause seinen Sohn mit gefärbten Schuhen und einer Flasche Bier in der Hand in der Altstadt erblickte. Seinen Sohn, den er extra aufs Gymnasium geschickt hatte wegen der Zukunft und so...
    Glaubt mir, es war nicht leicht in diesen Jahren. Ich konnte unter der Woche nicht einfach bis ein Uhr wegbleiben, wenn mir danach war. Wenn ich im »Hof« oder im »Okie Dokie« eine Band sehen wollte, mußte ich mir das hart erkämpfen. Wenn ich dann nicht »rechtzeitig« zurück war, gab es reichlich Arger. Ich war vierzehn, fünfzehn und aus gutem Hause, schätze ich, und rings um uns herum in Mettmann standen lauter weitere gute Häuser. Eines davon, in dem mein Freund
    Andreas (alias Andi) mit seinen Eltern lebte, durfte ich bis auf weiteres nicht mehr betreten, als wir uns nach den Schuhen auch noch die Haare gefärbt hatten. Andis konservativer Ver-lagskaufmanns-Daddy kriegte einen Anfall, als er seinen Sohn erblickte, und darauf mußte ich lauthals loslachen. Das hat dem so zugesetzt, daß ich Hausverbot bekam.
    Als wir dann das nächste oder übernächste Mal zu zweit nach England übersetzten, war es der ausdrückliche Wunsch meiner Mutter, daß ich ihrer Familie diesmal meine Aufwartung ersparte. Kein Cattle-Market in Holsworthy mehr, keine Lammsteaks mit Mintsauce. Stattdessen drei Wochen lang fast nur Weißbrot und Marmelade, die nach einem Unfall am Strand mit echtem Cornwall-Sand versetzt war und bei jedem Bissen gemein knirschte. Unser Mini-Etat war gleich am Anfang schon fast aufgebraucht, weil das uralte Drei-Mann-Zelt von John schwer wie ein Felsblock war und wir ein leichteres kaufen mußten. Was uns blieb, wurde in Tickets für Züge und Konzerte investiert, nicht in neue Marmelade. Wir kreuzten zwischen St. Yves und Glasgow, Leeds und London, und erwischten überall eine volle Breitseite Punk live -zum Beispiel das Abschiedskonzert von Sham 69 im Londoner Rainbow-Theatre: lebensgefährlich wegen der hohen Skin-Quote und der wilden Schlägereien, aber auch lebensnotwendig.
    Wir waren ausgehungert und ungewaschen, als wir schließlich wieder auf der Fähre Richtung Kontinent saßen. Wir waren derart ungewaschen, daß wir uns immer in einiger Entfernung einander gegenüber setzten, um uns besser auszuhalten. Aber wir waren zufrieden, fast glücklich, und wollten sobald wie möglich wieder hin. So war es einfach. Nur die anderen auf der Fähre machten einen weiten Bogen um uns. Die Möwen von Dover, die zuerst dachten, hier müsse es
    Abfälle geben, kreisten nach wenigen Minuten auch lieber woanders.
    Außenseiter!
    »Sie müssen Ihre Stimme pflegen.« »Ihre Stimme ist ihr Arbeitsgerät, ihr Kapital.« Ich habe also ein Instrument in meinem Hals, das war mir bisher gar nicht klar. Ich habe mich bis heute nie als »Sänger« in dem Sinne gesehen, wie Pavarotti ein Sänger ist oder Al Jarreau oder sonst jemand mit einer halbwegs »ausgebildeten«
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