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Bis du erwachst

Bis du erwachst

Titel: Bis du erwachst
Autoren: Lola Jaye
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Traurigkeit überwältigte sie ein neues, ebenso mächtiges Gefühl. Es war so heftig, dass es ihr fast den Atem raubte:
Schuld
.
     
    Das Haus in der Underhill Road mit seinen vier geräumigen Zimmern war ihr Elternhaus; sie waren dort aufgewachsen und hatten ihre gesamte Kindheit dort verbracht. Wie die meisten anderen Häuser in der Straße hatte es einen kleinen Vorgarten mit einem hölzernen Gartentürchen. Inzwischen jedoch fiel es hier auf, denn es war eines der wenigen, das sich den ursprünglichen Grundriss bewahrt hatte; die meisten anderen waren längst in separate Apartments umgewandelt worden.
    Ohne Lena fühlte sich das Haus so unglaublich einsam an. Lena hatte die Gabe, dem Haus Leben einzuhauchen. Sie war wie ein leuchtender Regenbogen, wenn sie ein Zimmer betrat. Das lag nicht nur an ihren Augen, sondern auch an ihrem unbändigen Haar, das sie sich oft mit einem Haarreif aus dem Gesicht hielt oder zu einem Pferdeschwanz hochband (was Millie scheußlich fand). Meist trug sie ihre Wildlederjacke mit dem Fellbesatz, einen bunten Schal, Jeansrock oder Jeans mit Schlag und schwere Lammfellboots, die sie kaum auszog, und zwar nicht, weil sie gerade in, sondern weil sie so bequem waren. Wie Millie diese Stiefel hasste! Sie suchte Lena im Adressbuch ihres Handys und rief zum dritten Mal bei ihr an, um sich die Ansage auf dem Anrufbeantworter anzuhören.
    «Hi, hier ist Lena. Hinterlassen Sie mir eine kurze Nachricht, ich rufe zurück. Danke für den Anruf. Tschühüss!»
    Sie rief noch einmal an.
    «Hi, hier ist Lena. Hinterlassen Sie mir eine kurze Nachricht, ich rufe zurück. Danke für den Anruf. Tschühüss!»
    Und noch einmal.
    «Hi, hier ist Lena. Hinterlassen Sie mir eine kurze Nachricht, ich rufe zurück. Danke für den Anruf. Tschühüss!»
    Die letzte Woche hatte sie die Nummer täglich gewählt, hatte gehofft, dass Lena drangehen, lachen und erzählen würde, dass die letzten beiden Wochen ein Riesenspaß gewesen seien und sie sie alle mal gründlich an der Nase herumgeführt hätte.
    Millie rief den Buchstaben S im Adressbuch auf. Nein, sie würde nicht dort anrufen. Noch nicht. Stattdessen würde sie alles in ihrer beschränkten Macht Stehende tun, um DIESMAL NICHT dort anzurufen. Dann lag ihreSchwester eben im Tiefschlaf, na und? Dann war sie eben einsam, verlassen und ohne Arbeit! DAS jedenfalls würde sie nicht tun.
    Sie schaute sich in ihrem Zimmer um, wo es inzwischen recht ordentlich aussah, nach dem überfälligen Besuch im Waschsalon und nachdem sie ihre übrigen Klamotten eingeräumt hatte, die ihr Dasein im Koffer gefristet hatten, seit sie aus ihrer Wohnung geflogen war. Das immerhin war nicht ihre Schuld gewesen – sie war mit der Miete zwei Monate in Verzug geraten, weil ihr das Wohngeld gestrichen worden war, nachdem sie einen Job gefunden hatte. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihr mitzuteilen, dass sie
ab sofort
die volle Miete zahlen musste. Lena hatte sie aus diesem Chaos gerettet, indem sie sie bei sich hatte wohnen lassen, als ihre Mitbewohnerin ausgezogen war. Sie war für sie da gewesen, wie immer. Und wie immer hatte Millie es ihr gedankt, indem sie ihr nicht im Haushalt geholfen und ihr nicht das Essen gekocht hatte, wenn Lena von einer ihrer langen, anstrengenden Schichten bei Kidzline nach Hause gekommen war. Manchmal war sie erst um elf Uhr nachts zurückgekommen.
    Millie lächelte bitter. Jetzt würde sie alles dafür geben, dass Lena wieder bei ihr wäre und ihr mit ihrem Genörgel in den Ohren läge, endlich abzuwaschen oder das Haar aus dem Abfluss im Bad zu räumen. Sie vermisste sie schrecklich. Ihr ewiges Gekritzel ins Notizbuch. Dass sie an keinem Secondhand-Laden vorbeigehen konnten, ohne dass Lena reinschauen und sich irgendeinen alten verrosteten Spiegel oder ein viktorianisches Teeservice ansehen musste. Millie stöberte viel lieber bei «Peacock’s» oder «New Look».
    Sie vermisste ihre große Schwester, und als sie allein zu Haus in ihrem Bett lag, fühlte sie sich so einsam wie nie zuvor in ihrem Leben.
     
    Cara genoss für einen Augenblick den Luxus des Vergessens. Sie hatte in ihrer Bar alle Hände voll zu tun. Sie mixte June Bugs, Mojitos und Caipirinhas, passte auf, dass Tisch sechs das Essen bekam, und behielt Eliza im Auge. Erst am Ende ihres ersten vollen Thekendienstes seit dem Unfall, als die Kneipe schon abgeschlossen und sie auf dem Heimweg war, dachte sie wieder an Lena. Sie hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Sollte sie nicht
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