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Bis du erwachst

Bis du erwachst

Titel: Bis du erwachst
Autoren: Lola Jaye
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gedacht?», sagte sie heiser.
    Wenn sie es recht bedachte, war die ganze Geschichte lächerlich. Dass ausgerechnet Lena, die gründlichste Person der Welt   – Himmel nochmal, sie schrieb sogar Listen!   –, über einen Schuh stolperte, über einen blöden Schuh! Und dann auch noch die Treppe hinunterfiel und in diesem Krankenhausbett landete! Die Ärzte hatten getan, was sie konnten, aber bei Lena schien nichts zu helfen. Die Tage verstrichen, und ihre Schwester wurde durch eine Nasensonde ernährt, und nur ein paar merkwürdige Reflexbewegungen erinnerten daran, dass sie tatsächlich noch am Leben war. Lenas Arzt wurde mit jedem Tag unsicherer.
    «Jetzt beruhigen wir uns alle mal ein wenig», sagte Schwester Gratten. Cara machte sich im Geist eine Notiz, dass sie sich über sie beschweren würde, sobald Lena diesemDrecksloch von Krankenhaus den Rücken gekehrt hatte. Warum, das wusste sie noch nicht so genau, aber irgendwer musste für die Sache bezahlen. Natürlich war ihr klar, dass das Unsinn war, aber im Augenblick war ihr nicht besonders rational zumute.
    «Es gibt eine Menge Untersuchungen, wonach Lena alles verstehen kann, was Sie sagen, also bemühen Sie sich doch bitte   …» Die Krankenschwester warf ihnen einen tadelnden Blick zu.
    In der ersten Woche hatten Lenas Freunde und Kollegen im Krankenhaus vorbeigeschaut, um sie zu besuchen. Cara hatte es schwierig gefunden, mit all den Leuten zu reden, die sie nicht kannte. Dann waren die Besuche weniger geworden und hatten schließlich ganz aufgehört. Man konnte ihnen daraus keinen Vorwurf machen, sie hatten ihr eigenes Leben. Die Einzigen, die Lena jetzt brauchte, waren ihre beiden Schwestern und Ade – alle anderen (und das galt auch für eine Handvoll alter Tantchen in Southampton) waren bloß Bekannte. Wenn sie, Ade und Millie zusammen am Bett saßen, wussten sie alle nicht recht, worüber sie sprechen sollten. Keiner mochte Lena anschauen, das machte ihren Zustand nur real.
    Ade eilte davon, um ihr einen Kaffee zu holen, Schwester Gratten murmelte, sie müsse sich um die anderen Patienten kümmern – und endlich war Cara mit ihrer Schwester im Krankenzimmer allein.
    So war es ihr auch am liebsten.
    Cara hielt ihre Hand. Lenas Fingernägel waren uneben und rissig, so ganz anders als ihre eigenen manikürten Nägel. Deshalb würde sie nicht anfangen zu weinen – nein, das würde sie niemals, aber dieser Entschluss hielt sie nicht davonab, sich vorzustellen, wie es wohl wäre, sich in irgendein dunkles Zimmer abseits vom Krankenzimmer zurückzuziehen, wo sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen und vielleicht sogar ein paar Tränen verdrücken könnte. Aber sie fürchtete sich davor, wie es sich anfühlen würde. Sie hatte vor langer Zeit gelernt, dass es niemals hilfreich war, Schwäche und Gefühle zu zeigen. Sie musste sich zusammennehmen. Für Lena, und für sich selbst.
    «Wie geht es dir, große Schwester?», fragte sie. Sie sprach viel mit Lena. Sie war sich nicht ganz sicher, aber wenn Schwester Gratten mit ihren Studien recht hatte, konnte Lena sie vielleicht doch hören, und dann   … vielleicht freute sie sich ja, die Stimme ihrer Schwester Cara zu hören.
    Cara überlegte, was sie ihr noch erzählen sollte. Die «angenehmen Dinge» waren ihr schon vor Tagen ausgegangen. Am liebsten hätte sie Lena von ihren Sorgen und Ängsten berichtet. Aber das würde so klingen, als erwarte sie, dass Lena ihr Leben für sie in Ordnung brachte, so wie früher. Unbedeutende Dinge, ein Streit mit Ade, Probleme in der Bar oder die «Krise», die sie hatte, als sie ihre Autoschlüssel vergaß und Lena von der Arbeit herkommen musste, um ihr den Ersatzschlüssel in die Bar zu bringen. Damals waren ihr diese Probleme immer so furchtbar wichtig vorgekommen. Jetzt hatten sie plötzlich nichts mehr zu bedeuten.
    Sie seufzte tief und dachte an den Tag, an dem sie ihren neuen, aufgemotzten kaffeebraunen Mini in Kentish Town abgeholt hatte, komplett mit schwarzen Ledersitzen, Leichtmetallreifen und eingebautem Navi. Das war das letzte Mal gewesen, dass sie Lena gesehen hatte. Cara hatte sie abgeholt, um mit ihr zu Tesco’s zu fahren, doch vor allem hatte sie ihrer Schwester das neue Auto vorführenwollen. Sie hätte sich gleich denken können, dass Lena nicht sonderlich beeindruckt sein würde. Sie hatte nur gesagt, von den zwanzigtausend, die sie für den Mini hingeblättert hatte, hätte man eine Million Menschen mit Essen versorgen können, oder so ähnlich.
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