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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts
Autoren: M Sayer
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sich gemeinsam mit den anderen Mitgliedern seiner Band in jener freien Zeit etwas dazuzuverdienen.
    In diesem Augenblick endete das Lied, und im ganzen Saal erhob sich der Applaus. Nachdem er wieder abgeebbt war, hörte Pearl ganz deutlich den Regen auf dem Blechdach des Gebäudes wie einen gewaltigen Trommelwirbel.
    »Meine Damen und Herren«, lautete die Ansage von Merv, »hier sind Merv Sent und die Senders!«
    »Wo treibst du uns denn hin, Merv?«, rief ein Mann mit raumfüllender Stimme und einem Südstaaten-Akzent aus dem Publikum zur Bühne hinauf.
    »Ich werde euch alle in den Wahnsinn treiben!«, schrie Merv. Dabei wischte er das Mundstück seiner Klarinette mit dem Saum seines Jacketts ab. »Und ihr könnt mir glauben, es wird nicht lange dauern, bis ihr so weit seid.«
    Die Leute lachten und klatschten Beifall.
    Merv winkte den Zwillingen zu und bedeutete ihnen, zu der Band auf die Bühne zu kommen. Martin hatte seinen Instrumentenkasten schon geöffnet und setzte sein Tenorsaxofon bereits zusammen. Pearl zögerte noch. Es kam ihr so vor, als würde sie nach wie vor von sämtlichen Anwesenden angestarrt, als ob jeder sich über ihre Hautfarbe und ihre blonden Haare wunderte. Noch nie war sie sich so weiß und so nackt vorgekommen.
    Während Martin über die kleine Treppe die Bühne erklomm, setzte Pearl noch das betagte Altsaxofon zusammen, das sie von ihrem Vater geerbt hatte. Aubrey Willis hatte seinen Kindern die Grundlagen beigebracht, doch seit sie acht Jahre alt waren, nahmen sie Privatstunden am Musikkonservatorium, wo sie klassische Musik, Musiktheorie und Komposition studierten. Aber alles, was die beiden über Jazz wussten, hatten sie sich nur durch das Anhören von Schallplatten und bei Konzerten angeeignet.
    Merv zählte den Einsatz zum St. Louis Blues herunter, und die Band setzte mit dem ersten Thema ein.
    Martin stand bereits im Licht eines Scheinwerfers, und Pearl trat neben ihn. Erneut bemerkte sie, wie sich die Leute auf der Tanzfläche langsamer bewegten, weil sie zu ihr nach oben schauten. Sie hatte schon öfter festgestellt, dass sich Amerikaner vom Anblick einer Jazzsaxofon spielenden jungen Frau hier in Australien irritiert zeigten, manche sogar amüsiert, da sie es anscheinend für so etwas wie eine Jahrmarktsattraktion hielten. Im Anschluss an Vorführungen im Trocadero hatte sie gern im Kreis von amerikanischen Gästen geplaudert, die sie fragten, wo sie es denn gelernt hätte, das Instrument so gut zu spielen. Doch vor amerikanischen Schwarzen hatte sie noch nie gespielt und war sich nicht sicher, wie sie reagieren würden.
    Martin gab ihr einen sanften Stoß in die Rippen, sie räusperte sich, stellte die Füße etwas auseinander – so wie er –, und dann begann sie zu spielen. Beim Anblick der Menge auf der Tanzfläche wunderte sie sich über die Vielfalt der verschiedenen Hautfarben. Jede Schattierung war vertreten, von tiefem Blauschwarz über Mahagoni und Milchkaffee bis hin zu Sepiatönen, alles fand sich hier durcheinandergewürfelt im aufsteigenden Dunst der Zigaretten. Und hier wurden keine konventionellen Foxtrotts oder Cha-Cha-Chas gespielt wie im Trocadero. Als die Band zum zweiten Refrain des Songs ansetzte, glitten die Frauen zwischen den gespreizten Beinen ihrer Tanzpartner hindurch, ihre Plisseeröcke wippten im Gleichklang mit der Musik und Pearl sah, wie sich auf den Hemdrücken der Männer die Schweißflecken immer weiter ausbreiteten. Auch Roma tanzte in ihr Blickfeld, wie sie um einen etwas kurz geratenen schwarzen Amerikaner herumwirbelte und ihr weites Kleid um ihren Körper flatterte wie eine Fahne am Mast.
    Die nächste Nummer, die Merv spielen ließ, war Bugle Call Rag , ein Wahnsinnstempolied, das Pearl nicht besonders gut kannte. Hinsichtlich der Melodie war sie sich reichlich unsicher, und der Rhythmus ging so schnell, dass sie kaum mithalten konnte. Martin hatte den Rhythmus hingegen mühelos gefunden und blies unverdrossen in sein Saxofon, als ob er die Nummer schon sein ganzes Leben lang mühelos gespielt hätte. Während sie darum kämpfte, den musikalischen Faden nicht zu verlieren, spürte sie, wie das Rohrblatt in ihrem Mundstück zwischen ihren Lippen immer weicher wurde. Es fühlte sich an wie ein schlaffes Stück Gummi und ruinierte den Klang. Sie versuchte, das Tempo zu verlangsamen, anschließend nur harmonisch zu spielen, ärgerte sich aber, als eine Reihe von falschen Tönen ihrem Saxofon entschlüpfte. Die Band hatte den vierten
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