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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts
Autoren: M Sayer
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Lebensgeschichte zu verfassen. »Jede einzelne Kassette bildet ein in sich abgeschlossenes Kapitel, mein Junge. Ich möchte, dass du dir eines nach dem anderen vornimmst, es anhörst und dann das dementsprechende Kapitel schreibst. Ich möchte auf keinen Fall, dass du vorzeitig das letzte Band anhörst. Das sollst du dir wirklich bis zum Schluss aufheben.«
    »Mach was aus der Sache«, verlangt sie schließlich noch. »Du sollst es zum Klingen bringen.« Angesichts dieser Aufforderung verstehe ich besser, was sie eigentlich von mir will. Schließlich bin ich ein Autor, keine Tippse. Ich bilde Sätze und schmücke Szenen aus. Ich feile an den Worten und ringe um Nuancen. Das ist in der Tat vergleichbar mit dem, wie sie mit einem Musikstück umging, indem sie aus der Grundmelodie eines Liedes etwas Überraschendes und Einzigartiges formte.
    Jawohl, die Herausforderung nehme ich an.

1
    Es ist ein verregneter Maitag – ein typischer Herbsttag auf der Südhalbkugel. In Sydney ist die Luft angefüllt mit umherwirbelnden Blättern und den Krächzern von Flughunden. Nachmittags rieseln Schauer gleichermaßen auf verwelkende Blumen, hohe Gebäude, Gemüsestände und eine Werbeveranstaltung für den Kauf von Kriegsanleihen auf dem Martin Place. Der Regen spritzt auf das Wasser im Hafen, die Schiffdecks werden glitschig, und an den Kanaldeckeln sammeln sich Kondome und Zigarettenstummel. Er fällt auf die Frauen, die nach Lebensmittelrationen anstehen, auf Fabrikarbeiter an Straßenbahnhaltestellen, wo sie ewig warten, weil Züge ausgefallen sind, auf Einwanderer aus Asien, die nach dem Kriegseintritt Japans auf dem Gelände einer Irrenanstalt zusammengepfercht wurden. Am Abend durchnässt er amerikanische Soldaten, die mit Australierinnen angebandelt haben, auf Prostituierte, die sich ein oder zwei Dollar verdienen wollen, und auf australische Soldaten, die mit amerikanischen GI s in ein Handgemenge verwickelt wurden, da diese ihnen angeblich ihre Mädchen wegschnappen.
    Gegen Mitternacht trommelt der Regen sanfte Synkopen auf die Blechdächer der Häuser in der Albion Street. Während Pearl von einer Markise zur nächsten hastete, um mit ihrem Zwillingsbruder Martin Schritt zu halten, nahm sie diese Rhythmen wahr und fragte sich, ob er sie auch hörte: Triolen, Paradiddles, Shuffles, Töne wie ein Herzschlag. Sie war fast achtzehn Jahre alt, und in dieser Nacht vernahm sie zum ersten Mal die Musik des Wetters.
    »He!«, rief sie hinter Martin her, der gerade seinen Saxofonkasten an sich drückte, einer überlaufenden Dachrinne auswich und über eine Pfütze sprang. Auch sie umging den Wasserfall aus der Dachrinne und hüpfte über die Lache. Doch sie landete sogleich in der nächsten, und das aufspritzende Nass hinterließ Schlammflecken auf ihrem Kleid. Martin prustete vor Lachen.
    Sie waren gerade auf dem Rückweg von einer Vorstellung im Trocadero, dem größten und prächtigsten Tanzsaal auf der gesamten südlichen Erdhalbkugel. Martin spielte das zweite Tenorsaxofon in der Big Band der Männer; Pearl spielte das Altsaxofon in der Big Band der Frauen. Diese beiden Jazzkapellen wechselten sich auf einer Drehbühne ab, die hinten von einer riesigen Muschel aus Glas gestützt wurde; sie war im Art-déco-Stil gehalten und wurde von Hunderten von verschiedenfarbigen Glühbirnen erleuchtet. Die Tanzfläche war gefedert, das Publikum war sehr chic. Und die Zwillinge wussten ganz genau, dass die Bezahlung die beste in ganz Sydney war. Der Nachteil des Trocadero war, dass die Hausorchester jeden Abend praktisch das gleiche Repertoire ableierten – leichte Tanzmusik als Begleitung für Foxtrott und Walzer. Echter, cooler, improvisierter Jazz, Swing oder Blues wurden jedenfalls nicht geboten. Aber genau das wollten die Geschwister noch spielen, aus diesem Grund kämpfte sich Pearl in Martins Fußstapfen durch die Sturmnacht. Beide trugen noch ihre Konzertgarderobe, sie ein weißes Spitzenkleid und hochhackige Schuhe, die inzwischen schlammverschmiert waren, und ihr Bruder einen Frack. Martin führte sie zu dem einzigen Club in der Stadt, wo man ihr erlauben würde, als Teil einer echten Jazzband bis in die frühen Morgenstunden wirklich abzujazzen. Zumindest hoffte sie, dass man ihr das erlauben würde. Jedenfalls hatte Martin mit dieser Band bereits einige Jamsessions absolviert, doch für Pearl wäre es das erste Mal. Es war erst einige Monate her, seit mit einigen Truppentransportern die ersten schwarzen amerikanischen
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