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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts
Autoren: M Sayer
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Refrain erreicht und gleich wäre Pearl an der Reihe mit einem Solo, und sie fragte sich bereits, wie um alles auf der Welt sie das schaffen sollte, als sich am anderen Ende des Saales irgendetwas zusammenbraute, jedenfalls buhten und pfiffen dort etliche Soldaten, und plötzlich heulte ein weiteres Tenorsaxofon auf.
    Durch das Halbdunkel konnte sie nicht richtig erkennen, von wem es gespielt wurde; sie konnte nur die Läufe zwischen den Tonarten erkennen und wie schnell und wohlakzentuiert sie waren. Der Ton schien von überall her gleichzeitig zu kommen, von unterhalb der Tanzfläche, von jeder Wand, sogar von dem Blechdach schien er herunterzuspringen. Die Papierschlangen an den Fenstern zitterten. Die Menge teilte sich, und nun konnte Pearl ein golden schimmerndes Tenorsaxofon erkennen, das sich wie ein Blinklicht im Nebel immer weiter in die Mitte des Raums schob, gefolgt von einem großen Mann, der darauf spielte. Er spielte so laut, dass Pearl kaum mehr die Akkordwechsel des Pianisten hören konnte und ihr Instrument schließlich absetzte. Der Mann schwang sich in den Hüften mühelos von einer Seite zur anderen, als wäre das Instrument seine Tanzpartnerin. Während er die Bühnentreppe hinaufstieg, kamen sämtliche Tänzer zum Stillstand und warteten gespannt, was als Nächstes passieren würde.
    Der fremde Saxofonist war gut über eins achtzig groß und trug die übliche amerikanische Uniformhose mit dazugehörigem Hemd. Wie alle anwesenden Männer war er glatt rasiert, und seine schwarze Haarkrause war sehr kurz geschoren. Seine Haut war allerdings heller als die der übrigen – ein heller Walnusston –, und sie glänzte von Schweiß. Um ihn besser beobachten zu können, trat Pearl einen Schritt zur Seite. Er hatte seinen Blick auf die verschiedenfarbigen Glühbirnen gerichtet, sein Gesichtsausdruck wirkte nachdenklich und etwas traurig.
    Am Ende des folgenden Refrains brach die Menge in so lauten Jubel aus, dass er weiterspielte. Bald wechselte er bei seinem Solo zwischen den Tonarten hin und her. An einer Stelle gelang es ihm, ein hartes Stakkato so klingen zu lassen, als würde er eine Frau immer wieder auf den Mund küssen, und er hatte irgendeinen Dreh mit dem Zwerchfell heraus, der es ihm ermöglichte, auf einem einzigen ununterbrochenen Atem zu spielen; doch Pearl konnte nicht erkennen, wie er das machte. Mal knurrte das Saxofon, kurz darauf winselte es, dann schraubte es sich in ein Crescendo von dreigestrichenen hohen Noten. Noch nie hatte sie jemanden so spielen hören, auch nicht auf den vielen amerikanischen Schallplatten, die sie kannte.
    Sie hatte so großen Respekt vor ihm, dass sie ihren Einsatz verpasste; oder vielmehr, sie war einfach zu sehr eingeschüchtert. Es war ein Gefühl ähnlich wie Lampenfieber, nur noch viel schlimmer. Bei dem Versuch, sich unauffällig von den anderen Musikern zurückzuziehen, unterlief ihr im Schatten ein Fehltritt, und sie stolperte die Bühnentreppe hinunter. Sie hörte das Gelächter aus der Menge, konnte das Grinsen auf den Gesichtern der vorbeigleitenden Tänzer sehen, einschließlich das von Roma, die sich inzwischen ihrer Schuhe entledigt hatte und nun mit einem wesentlich größeren Mann unterwegs war als vorhin. Pearl lehnte ihr Saxofon unwillig an den offen stehenden Instrumentenkasten und tauchte gedemütigt in der Menge unter; am liebsten wäre es ihr, sie wäre vom Erdboden verschluckt. Die Band gab nur noch gedämpfte Töne von sich, und über allem erklang der triumphale Heulton dieses verdammten Saxofonisten.
    Trotz der lauten Musik hörte Pearl, wie ihr Bruder ihren Namen rief, aber sie reagierte nicht darauf, sondern rauschte durch das zigarettengeschwängerte Licht Richtung Ausgang.
    Auf der überdachten Veranda draußen lehnte sie sich gegen die Hauswand und atmete tief durch. Noch nie im Leben hatte sie sich dermaßen zum Narren gemacht – weder beim Vom-Blatt-Spielen in der Prüfung am Konservatorium noch bei ihrem ersten wirklichen Konzertauftritt mit Miss Mollys Sunshine Orchestra. Selbst ihrem Bandleader im Trocadero war es gelungen, sie glauben zu machen, sie sei eine Art musikalisches Wunderkind, auch wenn sie stets den Verdacht hatte, er wolle sie ein wenig aufmuntern, weil sie eine junge Frau war.
    Die Band hatte soeben Bugle Call Rag beendet, und sie konnte von drinnen den aufbrandenden Beifall hören. Pearl fing vor Kälte zu zittern an und rieb sich die Arme. Außerdem schalt sie sich selbst, da sie ohne ihr Saxofon
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