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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts
Autoren: M Sayer
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weggerannt war. Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als noch einmal nach drinnen zu gehen, um es abzuholen, bevor sie sich auf den Heimweg machte. Vielleicht würde Martin ihr das Instrument nach draußen bringen, oder sie könnte eine der Frauen an der Garderobe bitten, es für sie zu holen. Noch während sie überlegte, erschien der Mann, der das beeindruckende wilde Solo gespielt hatte, und hielt ihr den Kasten hin. So aus der Nähe gesehen war er einen halben Kopf größer als sie, und sie musste ihren Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht schauen zu können. In dem dämmrigen Lichtschein, der vom Eingang her herüberdrang, wirkte seine Haut nicht mehr so hell wie vorhin im Saal. Sie hatte jetzt eher die Farbe von nassem Sand. Doch seine Zähne schimmerten strahlend weiß, als er sie anlächelte, und ihr fiel auf, dass er wunderschöne lange Wimpern rund um seine graublauen Augen hatte.
    »Herzchen«, sagte er, »du verstehst wirklich was vom Saxofonspielen!« Sein weicher, melodischer Akzent verriet eindeutig seine Herkunft aus den amerikanischen Südstaaten.
    Pearl streckte die Hand aus, um den Instrumentenkasten entgegenzunehmen, aber mit seiner freien Hand umfasste er ihr Handgelenk.
    »Das war ein schlechtes Rohrblatt«, sagte er. »Das passiert auch dem besten Könner.«
    Sie war sich nicht sicher, ob er das ironisch meinte oder nicht, daher nickte sie.
    Er stellte den Kasten ab, zog eine Packung Zigaretten hervor und bot ihr eine an.
    Pearl zögerte. Eigentlich rauchte sie nicht, doch ein erneuter Blick in seine graublauen Augen ließ sie innerlich erschauern. Da sie erwachsen und weltgewandt erscheinen wollte, zog sie eine Zigarette aus dem Päckchen und steckte sie sich zwischen die Lippen.
    Er zündete ein Streichholz an und gab ihr Feuer, dann hielt er es an seine eigene Zigarette. Während Pearl vorsichtig und halbherzig an ihrer Zigarette zog, standen sie sich einige Augenblicke lang wortlos gegenüber.
    »Wo haben Sie denn so zu spielen gelernt?« Etwas Rauch drang aus ihrer Nase, und sie fing an zu husten.
    »Atme durch den Mund aus«, riet er ihr mit einem Lächeln. »Sonst verschluckst du dich.«
    Sie schnaubte und zog noch einmal kurz an der Zigarette.
    »Wo ich herkomme«, begann er und ließ seinen Blick über den nassen Rasen schweifen, »spielt beinahe jeder ein Instrument. Da gibt’s sonst nicht so viel zu tun.«
    Pearl tippte mit dem Finger auf ihre Zigarette, obwohl es noch gar nicht nötig war, Asche abzustreifen. »Und wo kommen Sie dann her?«
    »Loui-si-ana«, erwiderte er ganz langgezogen, lehnte sich näher zu ihr und flüsterte: »Dem Heimatland der Teufelsmusik.« Er weitete in übertriebener Weise seine Nasenlöcher und seine Augen zu einer kurzen Grimasse und fing an zu lachen.
    »Also aus New Orleans?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich bin auf einer Farm nahe an der Grenze zu Mississippi aufgewachsen. Aber in New Orleans bin ich oft gewesen. Beim ersten Mal war ich sieben und zusammen mit meinem Cousin dort. Da habe ich zum ersten Mal King Oliver spielen hören.«
    Als er diese magischen Worte »King Oliver« nannte, setzte bei Pearl beinahe der Atem aus. Sie kannte diesen großartigen Trompeter nur von einigen Schallplatten ihres Bandleaders.
    »Sie haben den King Oliver tatsächlich selbst erlebt?«
    Er nickte. »Das war auf einem Raddampfer.«
    »Den Mann, der der Lehrer von Louis Armstrong war?«
    »Genau der.«
    Die Zigarette qualmte in ihrer Hand vor sich hin; Pearl hatte sie ganz vergessen. »Wie hörte sich das an?«
    »Gut«, antwortete er einfach. »Er konnte jedes beliebige Lied von unten nach oben, von außen nach innen variieren, konnte es gegen die Wand schlagen und an die Decke schmeißen.«
    Er schnalzte seine Kippe in einen Abfalleimer. Pearl wollte es nachmachen, doch sie zielte daneben und musste hinter der halb gerauchten Zigarette hinterherrennen, die über den Verandaboden rollte.
    Verlegen sah sie zu dem Saxofonisten auf, der sich, wie sie sehr wohl bemerkte, alle Mühe gab, nicht vor Lachen loszuprusten.
    »Herzchen«, sagte er, »wie heißt du eigentlich?«
    »Pearl.«
    »Nun denn, Pearl, ich heiße James.« Er streckte ihr seine Hand entgegen, und sie bemerkte, wie groß sie war. »James Washington.«
    Als er ihr die Hand schüttelte, kam es ihr so vor, als hätte sie ihre in einen warmen Fausthandschuh gesteckt. »Seit wann bist du denn schon in Sydney, James?«
    »Fast eine Woche. Aber bis heute Abend musste ich in unserem Camp
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