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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt
Autoren: Vladimir Ulrich
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Strapazen eines solchen Unterfangens zu vergegenwärtigen. Der Gedanke kam immer wieder. Und wie wäre es, statt nach Hause, nach Rom und dann weiter nach Jerusalem zu gehen? Ein langer Weg, gewiß, aber vielleicht doch nicht ganz utopisch. Drei, vier Monate bis nach Rom. Immer entlang der Mittelmeerküste. So könnte man dem Herbstwetter entkommen, den Winter dann irgendwo in einem italienischen oder französischen Kloster verbringen. Das würde auch meinen Sprachkenntnissen zugute kommen. Und dann im Frühjahr weiter nach Jerusalem, auf dem Weg, den schon beim ersten Kreuzzug im 11. Jahrhundert Robert von Flandern nahm — über Bari, Adrianopel, Konstantinopel, Nicäa, Antiochia, Tripoli. Deus lo vult! Ich war frei wie ein Vogel, ich konnte ziehen, wohin ich wollte. Nichts lag zu weit, wenn der Herr seinen Segen gab. Wollte er, daß ich weiter ziehe?
    Am Ende fand ich mich damit ab, daß ich mein Gelübde erfüllt hatte, und nahm — völlig phantasielos — den Bus. Auf die Zugreise erster Klasse, von der ich unterwegs manchmal träumte, verzichtete ich wegen der Sicherheitskontrollen auf den spanischen Bahnhöfen. Wer weiß, wofür sie gut waren, denn es würde reichen, an irgendeiner verlassenen Stelle die Schienen durchzuschneiden, und der ganze Zug wäre mit Höchstgeschwindigkeit in der Pampa zerschellt. Und keine Kontrolle am Bahnhof könnte das je verhindern. Aber die Spanier hatten ein paar Jahre zuvor einen Bombenanschlag auf dem Bahnhof in Madrid, viele Jahrzehnte Terrors durch baskische und katalanische Separatisten und davor noch die Franco-Diktatur hinter sich und fanden vielleicht gar Freude daran, sich von irgendwelchen Haderlumpen durchsuchen und herumschicken zu lassen. Mir war allerdings nicht danach. Schon seit dem Bombenanschlag auf das World-Trade-Center und der überall aufkommenden Schnüffelei mied ich alle Flüge. Und als es sich einmal nicht vermeiden ließ, vergaß ich prompt ein recht teueres Messer in der Tasche, das mir von einer liebenden Person geschenkt wurde, und das ich deshalb nicht wegwerfen wollte und somit gleich durch mehrere solche Kontrollen schmuggeln mußte, was letzten Endes auch nicht so schwierig war, dennoch nichtsdestotrotz recht gefährlich, weil die frustrierten Kontrollfritzen mangels waschechter Terroristen das normale Volk in Sippenhaft nehmen. Und wer einmal in der verkehrten Computerdatei steht, der hat ausgespielt. Es ist auch unklar, warum am Flughafen und am Bahnhof kontrolliert wurde, jedoch nicht im Busterminal, aber es hätte nur dessen bedurft, daß ich zu Fuß gegangen wäre. Vielleicht hat man diese Sicherheitslücke längst geschlossen, ich jedenfalls entkam noch unerkannt, und nur ich weiß, was ich da in den Taschen trug. Oder ich bilde mir es naiv nur ein, und die dunkle Macht, die hinter der strahlenden Fassade der Demokratie lauert, warf längst ihr klebriges Netz über mich und mein Tun.
    So kam ich also erneut in die Apostelstadt, quartierte mich wieder in dem mir inzwischen vertrauten Priesterseminar ein und hatte noch reichlich Zeit, nach der großartigen Stimmung der ersten Ankunft hier zu suchen. Es gelang mir nicht. Ich absolvierte die Kathedrale, die Gassen der Altstadt, sah den Menschen zu, mußte aber am Ende erkennen, daß die kostbare Zeit, die ich beim ersten Mal erlebte, nicht wiederholbar war. Santiago ist wohl doch keine stete Quelle der Beglückung, sie ist es einmalig nur für den ankommenden Pilger und vielleicht auch nicht für jeden von ihnen. Das gab mir zu denken, und ich tat es am Fenster im Refektorium des Priesterseminars, dessen Ausblick allezeit großartig blieb. Dort saß ich bis zum letzten Augenblick, als es schon Zeit war, zum Busbahnhof zu gehen. Dies war wirklich der Abschied, vermutlich sollte ich nie mehr hierherkommen, hier war die Pilgerreise vorbei. Von nun an mußte ich nicht mehr bei jedem Wetter mehrere zig Kilometer am Tag laufen, jeden Abend meine ganze Kleidung waschen, und mein gesamter Besitz sollte nicht nur zwölf Kilo wiegen. War es nun gut oder schlecht? Die Sorgen des anderen Lebens, das ich hinter mir ließ, drängten nach. Noch konnte ich sie vertreiben, noch war ich nicht daheim, aber sie waren da, und einmal in einer nicht mehr fernen Zeit mußte ich mich ihnen stellen. Also, vielleicht doch lieber nach Rom ziehen? Hätte es die Stadtkulisse vor mir nicht gegeben, die Spannung hätte mich zerrissen.
    Ich führte mein letztes Gespräch mit dem Herrn. Ich hatte ihm zu danken, weil er für
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