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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt
Autoren: Vladimir Ulrich
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Ozean aus, immer in Arbeit, immer in Bewegung. Ein Felsen vor der Küste stand dunkel, fast schwarz, im Silber der sich spiegelnden Wasserfläche. Die Sonne hing bereits tief über den Wässern, schleichend und unaufhaltsam fing alles zu glühen an. Zunächst war es nur ein dünner Streifen weit, weit weg dort am Ende des Wassers, der sich kaum merklich verbreitete, wuchs, schwoll, bis er zu einer steten Quelle wurde. Der sprichwörtliche Silberstreifen am Horizont. Da war die Sonne längst noch nicht untergegangen. Erst ließ sie sich durch einzelne zersauste Litze und Wolkenhaufen hinab. Wie ein riesiges, landendes Raumschiff, das die Gesetze der Physik sorgfältig zu beachten hat. Zwei Segelbote befuhren das Silbermeer, winzig, zerbrechlich, tapfer, die aufziehende Nacht nicht fürchtend. Wächter des Uhrwerks. Ohne sie, ohne den trotzenden Felsen, um den das Wasser wild kochte, schäumte, brodelte, wäre das Bild nicht vollendet. Es war mein Bild, vom Herr gewährt, weil er mich kennt und weiß, was ich mag. Langsam, doch unaufhörlich kroch das Feuer vom Horizont her über die sich wölbenden Wasser auf uns zu, die glühende Scheibe hing nur noch eine Daumenbreite darüber. Sie trug eine delikate Krone aus Wolkenschleiern. Alle hielten den Atem an. Es war still wie in einer Kirche, so still, wie es in der Kathedrale von Compostela nie sein wird, nie werden kann. Wer würde hier noch herumwandern wollen, wer hätte denn so Wichtiges mitzuteilen? Hier reichte der Herr seine ganze Macht und Herrlichkeit dar. „Seht, Menschen, da bin ich, der Schöpfer, das Maß, das Gesetz. Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende. [85] Ich bin, der da ist, ich bin alles. Ihr kennt mich nicht. Meine Boten vielleicht — den stotternden Josef, die struppigen Propheten, meinen Sohn. Ich kann mich euch nicht anders mitteilen. So seht und denkt nach, dies ist mein Werk, wacht auf und erkennt.“
    Immer noch mit der Wolkenkrone geschmückt, berührte das Gestirn die Kimm. Fast konnte man diese Berührung spüren, es ging eine Bewegung durch die Reihen. Die bis dahin silberne Fläche des Ozeans verfärbte sich. Um den Felsen herum und hinter den Segelboten zerfiel sie in Tausende Diamanten. Während die glühende Scheibe ins Meer sank, streckte sie uns ihre rote Zunge aus. Was orange war, wurde rot, was golden, orange, was silbern, zum Gold. Schatten holten aus. Unmerklich, doch stetig stieg die Spannung, die Konzentration, fast ins Unendliche. Der Herr selbst ging vorbei, um die Wirkung zu besehen. Er schien zufrieden. Dieses Ereignis traf jedes Herz, das des Christen und das des Heiden. Hier blieb kein Auge trocken. Hier erkannte der Mensch den Schöpfer. Als die ersten römischen Legionäre im Jahre 136 vor Christus hier ankamen und eben dieses Bild sahen, habe sie angeblich eine solche Furcht und Panik ergriffen, daß sie gar flüchten wollten. [86] Durchaus vorstellbar. Schon vor dreieinhalbtausend Jahren verehrten die Kelten diesen Ort als heilig, und wer weiß, wer noch zuvor. Wir sind nur die letzte Zivilisation von vielen. Die uns bekannte Geschichte geht bestenfalls fünftausend Jahre zurück. Für die hunderttausend Jahre davor fehlt das Zeugnis.
    Die geschmückte, glühende Sonne glitt nun in einem Funkengestöber zischend ins Meer. Anfangs langsam, dann immer schneller, bis nur der letzte strahlende Zipfel herausragte. Der allerletzte Gruß. Schwer vorstellbar, daß sie gerade in diesem Augenblick neu geboren am anderen Ende der Welt aus dem Wasser stieg. Gleich mächtig, gleich schön, gleich unbegreiflich. Der letzte Strahl ließ die Wolkenkrone kaminrot aufleuchten. Aus Klüften der Felsen stieß die Dunkelheit hervor, mystische Schatten, die sich dort tagsüber vor dem Licht verbargen. Nun waren sie frei, jagten über dem Wasser der Sonne nach, von der nur noch ein hellblaurosa Streifen ganz hinten am Horizont übrig blieb. Das Leuchtfeuer über unseren Köpfen stieß mit lautem Klack den ersten Strahl aus, und das rotierende Licht zündete nach und nach alle Sterne an. Alles stand still und ergriffen in der Dunkelheit unter dem Sternenzelt, das Leuchtfeuer kehrte am Himmel die Nischen aus.
    Es war vollendet, nichts ging mehr. Der Augenblick der Eklipse war vorbei. Zögernd begangen sich die Menschen zu rühren, verhaltene Ausrufe stiegen auf. Aus einer unsichtbaren Ecke kam ein scharfer Gestank rüber. Der Tradition nach zündete man hier am Kap seine Schuhe oder andere
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