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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt
Autoren: Vladimir Ulrich
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so kurzer Bekanntschaft in Anwesenheit Dritter danach zu fragen. Aber wenn ich für sie bete, so wie ich für alle, die mich auf meinem Weg begleitet und mir Gutes erwiesen haben, häufig bete, so bitte ich den Herrn, sie möge auf dem Camino das gefunden haben, wofür sie wie ein moderner Ahasver , der ewige Jude, ruhelos durch alle Kontinente wandern mußte.
    Landschaftlich war der Weg mehr als interessant. Es galt Wälder und Wiesen auf schmalen, aufgeräumten Pfaden zu passieren, schroffe Hügelketten mit aufgepflanzten Windrädern standen wie Mauern ringsum, dahinter eine dramatische Wolkenkulisse. Es war kühl, windig und regnerisch, jedoch nicht ausgesprochen naß. In der Nacht muß der Gefrierpunkt erreicht worden sein, am Morgen gab es weiße Stellen im Herbstlaub. Weshalb die Herberge mit einer modernen Fußbodenheizung beheizt wurde. Dafür war ich sehr dankbar. Wegen des ständig drohenden Regens hatte ich in der kurzen Hose zu marschieren. Die lange hätte sich ja gleich mit Wasser vollgesaugt, und ich hätte für den Abend nach dem Marsch keine Wechselkleidung mehr. Um die Kälte zu kaschieren, trug ich den Regenponcho. Damit war ich bis zu den Knien vor Wind und Nässe einigermaßen geschützt. Nach der gestrigen Krise fiel mir das Gehen immer noch ziemlich schwer. Jedenfalls konnte ich nicht auf die Dauer mit meinen gesunden, jungen Begleitern Schritt halten. Auch mußte ich wegen der verhältnismäßig langen Etappe von vierunddreißig Kilometern mit den Kräften wirtschaften. Ohne das kann man sich an einer kurzen anstrengenden Strecke so sehr vorausgeben, daß man den Rest nicht mehr schafft. Ich habe es in den Bergen häufig erlebt und plante daher entsprechend vor. Mit einer harmlosen Ausrede blieb ich zurück und marschierte nun allein — zwar langsamer, jedoch ganz ohne Streß. Ich überholte gar den einen oder anderen noch langsameren Pilger, darunter auch den Saarbrücker, der mir erschrocken auswich und vorgab, mich nicht zu sehen. Gewiß vermißte er die Mauer, um die Nase dran zu drücken, wie es vor mir die spanischen Hunde taten. Etwas übertrieben und fast lächerlich, fand ich, grübelte aber nicht mehr darüber. Das tat ich schon mehrmals zuvor und stets ohne Resultat. Warum ich in Frankreich fast allen genehm war, und hier in Spanien den Status eines Aussätzigen hatte, stand über meinem intellektuellen Horizont. Es war ohnehin fast vorbei. Es waren nur noch anderthalb Tage bis Finisterre. Weiter konnte man nur noch schwimmen. Allerdings bestand die Versuchung, wie im Mittelalter zu Fuß nach Hause zu wandern. Dieser ganze Weg war wie verzaubert, und man mußte sich vor leichtsinnigen Gedanken sehr in acht nehmen. Sie konnten Wirklichkeit werden. Herbst und Winter standen an, ich war krank, habe mein Gelöbnis vor dem Herrn erfüllt, hatte keinen Anlaß und vermutlich nicht mehr genug Geld für eine Rückreise zu Fuß, doch hätte ich hier der Versuchung nachgegeben, ich wäre, so wie ich hierher kam, wieder zu Fuß nach Hause marschiert. Und hätte ich auch nur eine einzige winzig kleine Tagesetappe zurückgelegt. Eine Weile haftete der Gedanke an mir wie die Klette.
    So verging der Tag, obwohl ereignislos, doch wie im Fluge. Kurz vor Olveiroa holte ich Rachel ein, der Cambridge-Student ging ihr irgendwo verschütt. Wir zogen gemeinsam in die Ortschaft ein und belegten eines der historischen Dorfhäuser, die man als Pilgerunterkünfte restaurierte. Es sind kleine romantische Häuschen aus geschichtetem Stein, für etwa vier Personen. So etwas hätte ich selbst gerne als Sommerresidenz irgendwo im Süden. Wir nisteten uns mit Rachel im ersten Stock ein. Guter Platz. Nur über eine schmale Treppe erreichbar und fast uneinnehmbar. Echt romantisch. Es machte Spaß. Es gäbe sogar einen Kamin da, jedoch war weit und breit kein Holz zu bekommen. Mit Rachel als Gesellschaft, einer Flasche Rotwein und vollem Magen wäre dies sozusagen ein unvergeßlicher Abend gewesen. Statt dessen gingen wir brav ins Gasthaus essen. Es war ernüchternd. Sogar der Wein taugte nichts. Draußen regnete es in Strömen, so wie es nur in einem komplett aus Steinen bestehenden Bergdorf zu regen vermag. Die schwarzgrauen Steine glänzten kalt in dem rasch schwindenden Abendlicht, als wir schon in unsere Schlafsäcke krochen. Es gab für uns hier nichts besseres zu tun. Um die Tristesse zu vertreiben, beschloß ich, ab sofort wieder gesund zu werden.
Finis Terre, km 3071
    Der Morgen begann, wie der Abend endete.
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