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Binde Deinen Karren an Einen Stern

Binde Deinen Karren an Einen Stern

Titel: Binde Deinen Karren an Einen Stern
Autoren: Elisabeth Lukas
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Mädchen zuliebe auf und werdet Kavaliere! Geht achtungsvoll mit euren Kameraden um, verzichtet auf Spott und Tätlichkeiten euer Leben lang, redet vernünftig und ruhig mit euern Widersachern, vergeltet Widerwärtigkeiten nicht mit Widerwärtigkeiten, arbeitet an einer eigenen besseren Identität, und ihr werdet spüren, wie eure Schuld Stück für Stück aufgewogen wird durch ein positives Wirken, von dem eure Mitmenschen profitieren. Es ist einfach, sich selbst zu hassen, nur ist niemandem damit gedient. Gedient ist der Welt, wenn ihr über eure Schuld hinauswachst und euch zu liebenswerten Menschen entwickelt – die ihr ohne dieses Unglück vielleicht gar nicht geworden wäret.“
    Ich erinnere mich an den Fall einer Mutter, die ihren dreijährigen Sohn in einem Wutanfall mit einem heißen Bügeleisen misshandelt hatte. Drei Jahre lang habe ich auf richterliche Anweisung mit ihr gearbeitet, und es war härteste „Knochenarbeit“. Am Ende beschloss sie, ihrem Sohn Alex zuliebe eine „gute Mutter“ zu werden, obwohl er ihr behördlich weggenommen worden war. Wenn sie sich über ihre Nachbarin ärgerte und spontan eine Vase an die Wand knallen wollte (was schon vorgekommen war), hielt sie inne – Alex zuliebe. Wenn sie an ihrer Arbeitsstelle meinte, eine Kollegin werde ihr vom Chef vorgezogen, dann verzichtete sie auf eine hinterhältige Diffamierung der Kollegin (ihr übliches Verhaltensmuster) – Alex zuliebe. Wenn sie wie früher ein leichtes Unwohlsein benützen wollte, um sich für sechs Tage krank zu melden, so riss sie sich zusammen und verrichtete klaglos ihre Arbeit – Alex zuliebe. Jahre später gebar sie ein zweites Kind und erwies sich als das, was sie tatsächlich geworden war: als eine „gute Mutter“, an der das wachsame Jugendamt nichts auszusetzen hatte. Auf einer Abschiedskarte schrieb sie mir: „Das Wissen um meine Schuld hat mich geläutert. Ich kann die Schuld an Alex nicht wiedergutmachen, aber alles Gute, das ich jetzt tue, tue ich aus dem Wissen heraus, dass ich etwas gutzumachen habe, und es gelingt mir immer besser. Wenn Alex erwachsen ist, werde ich mit ihm darüber sprechen und ihn um Vergebung bitten …“
    Ja, das Wörtchen „zuliebe“ ist schon ein Zauberwort! Die herkömmliche Psychologie begegnet ihm mit Misstrauen, doch meine Erfahrung ist die, dass ihm, wenn es ehrlich gemeint ist, eine ungeheure Kraft innewohnt. Es hilft uns schwachen Menschen, Aggressionsimpulse zu entschärfen, Hassgefühle und perverse Wünsche zu zähmen und im schlimmsten Fall unsere schuldbeladene Seele zu retten. Oder global ausgedrückt: Schuld ist ein Kapitel der Menschheit, dessen blutige Niederschrift jeweils nur dann nicht ganz umsonst gewesen ist, wenn sie zu einem nächsten sozialeren und gerechteren Kapitel überleitet, das aus der Kraft des „einander zuliebe“ gespeist wird.
Missbrauch und Befreiung
    „Ich werde Alex um Vergebung bitten“, hat die Mutter aus obigem Beispiel gesagt. Kann man in so schweren Fällen von Gewalt und Missbrauch überhaupt vergeben? Da ich selbst kein Missbrauchsopfer bin, fühle ich mich nicht befugt, diese Frage zu beantworten. Ich kann nur erzählen, dass ich Opfer gekannt habe, die diese Frage verneinten, und solche, die sie bejahten. Es ist beeindruckend zu erleben, dass das Schicksal eines Menschen nicht allein über ihn entscheidet.
    Diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht vergeben können, tragen gewissermaßen an einer
doppelten
Last: Sie schleppen mehr als ihre traurigen Erinnerungen mit sich „im Rucksack“ herum. Auch Groll und Wut sind drinnen, die sie gegen ihre einstigen Peiniger empfinden. Mit was für einem schweren Gepäck kämpfen sie sich durchs Leben – durch ihr eigenes Leben … Ach, könnten sie es doch abwerfen und hinter sich lassen …
    Einer meiner Patientinnen ist es gelungen, nach 40 Jahren! Sie ist als 8-jähriges Mädchen vergewaltigt worden. Nie hat sie mit jemandem darüber gesprochen; damals nicht mit ihrer Mutter, weil sie sich ihrer blutigen Unterwäsche geschämt hat und gedacht hat, ihre Mutter würde mit ihr schimpfen; und später auch nicht. Sie hat sich zu einer mondänen, gebildeten Frau entwickelt, trug aber das Erfahrene immer noch mit sich herum, bis sie es mir im Gespräch anvertraute. Ihr lang verhaltener Zorn wallte hoch. Welch abscheulicher Mann, und sie hatte in ihrer Gehemmtheit als Kind verhindert, dass er angezeigt wurde!
    Ich wollte ihr helfen, diese alte Angelegenheit
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