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Binde Deinen Karren an Einen Stern

Binde Deinen Karren an Einen Stern

Titel: Binde Deinen Karren an Einen Stern
Autoren: Elisabeth Lukas
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gemeint, dass hysterische Personen geborene Schauspieler sind, die problemlos von einer Rolle in die nächste wechseln können, wobei ihr wahres Ich kaum zum Vorschein kommt. Offenbar ist es so armselig, so verkümmert, dass es hinter der jeweils gespielten Rolle fast völlig verschwindet. Ein hysterischer Mensch kann herzzerreißend weinen und sich dabei königlich amüsieren, und umgekehrt; er kann forsch-fröhlich auftreten und dabei zuinnerst verzagt sein. Dazu kommt, dass die Rollen, die er spielt, meist schlau berechnet sind, um ihm einen schnellen Gewinn an Aufmerksamkeit und Zuwendung seitens anderer Personen zu verschaffen. Die besondere Gabe, seinen Körper stark beeinflussen zu können (Konversionsfähigkeit), ist ihm dabei von großem Nutzen.
    Da hysterische Verhaltensweisen Szenen vor zuhörendem und zusehendem Publikum darstellen, können talentierte Hysteriker auch rührend ansprechende Rollen inszenieren, wenn dies ihren verborgenen Zwecken dient. Sie können mitfühlend, verständnisvoll, opferbereit und zutiefst freundlich
erscheinen
, wenn sie es für günstig halten. Viele merken genau, wann der richtige Zeitpunkt für einen „Auftritt“ gekommen ist, und variieren diesen je nach Vorhaben und Publikum so geschickt, dass sie aus ihrer Darstellung optimale Vorteile ziehen. Wie gesagt bedienen sie sich nicht selten ihres eigenen Körpers, um die Echtheit anschaulich zu demonstrieren, wofür sich Ohnmachtsanfälle, Weinkrämpfe, Fieberschübe, Lähmungen etc. hervorragend eignen. Je besser sie jemanden damit täuschen können (der dann alles stehen und liegen lässt und sich überbesorgt um sie kümmert), desto häufiger wird diesem gegenüber nach der bewährten Methode verfahren, wodurch hysterische Personen mitunter ihre ganze Familie in Atem halten, die ständig darauf bedacht ist, ihnen nur jeden Wunsch von den Augen abzulesen, damit kein neuerlicher „Anfall“ geschieht.
    Vom krankhaften Egoismus ist es nicht weit hin bis zur ungenierten Erpressung, die hysterische Personen glänzend beherrschen; und geht es nicht anders, so wird mit Selbstmord gedroht oder sogar ein Mini-Selbstmordversuch in Szene gesetzt, was auch den widerstandsfähigsten Gegner „weich klopft“.
    Das ideale Heilmittel wäre natürlich, solche Personen konsequent um die von ihnen berechnete Wirkung zu bringen. Leider aber gehen hysterische Auftritte, falls ihre Wirkung ausbleibt, also das Publikum nicht entsprechend reagiert, nicht schlagartig zurück. Im Gegenteil, es werden die bisher funktionierenden Methoden gesteigert, um schlussendlich doch noch die gewünschte (und nunmehr vermisste) Wirkung zu erzielen. „Schweres Geschütz“ wie körperliche Zusammenbrüche oder demonstrative Kurzschlussgefährdung wird aufgefahren – und der Hysteriker setzt sich leise triumphierend durch. So kann man zum Beispiel von einem heimkehrenden Familienmitglied nicht verlangen, dass es an „geritzten Pulsadern auf blutverschmiertem Kissen“ achselzuckend vorübergeht. Schon ist wiederum ein Stück Zuwendung abgepresst worden …
    Angesichts körperlicher oder seelischer Notsignale ist für die Mitwelt (und sogar für Ärzte!) oft kaum erkennbar, was echt ist und was nicht. Das ist eben das Fatale an der Problematik: Sie hält sich selbst in Gang, weil die hysterische Symptomatik stetig „belohnt“ wird. Eine Großmutter, die immer dann sterbenskrank wird, wenn ihre sie pflegende Tochter in Urlaub fahren will, erreicht glatt, dass ihre Tochter etwaige Urlaubspläne gänzlich einstellt. Eine Ehefrau, die immer dann eine Herzattacke bekommt, wenn ihr Mann seine Freunde besucht, erzieht ihn dazu, jede Freundschaft aufzugeben.
    Was hilft, einen solch unglückseligen Prozess zu stoppen? Seitens der Angehörigen hilft nur, zu dem Kranken auf Abstand zu gehen, um dessen erpresserischen Spielchen zu entrinnen. Eine traurige Lösung mit viel Schmerz auf beiden Seiten! Die bessere und wirklich glanzvolle Lösung läge in der Hand des Hysterikers. Und zwar bestünde sie darin, dass dieser sukzessive auf seine „Auftritte“ verzichtete, obwohl sie die von ihm gewünschte Wirkung versprächen. Warum sollte er dies – entgegen seinen eigenen Intentionen – tun? Wir können ihm schon ein Warum unterbreiten: Damit er eine Chance bekommt, die Liebe doch noch kennenzulernen! Denn:
der Hysteriker wird nicht geliebt.
Niemand mag ihn. Wer kann, der flüchtet vor ihm, und wer nicht kann, gewährt ihm erzwungene Zuwendung bei innerer Abneigung.
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