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Binde Deinen Karren an Einen Stern

Binde Deinen Karren an Einen Stern

Titel: Binde Deinen Karren an Einen Stern
Autoren: Elisabeth Lukas
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dem Widerstand des Patienten, bis der Diplomat, dem es immer schlechter ging, schließlich Frankl aufsuchte. Dieser erkannte die Echtheit des Wunsches nach einem anderen Betätigungsfeld und riet dem Patienten dringend, seiner inneren Berufung zu folgen. Er ermutigte ihn, gewisse Brücken hinter sich abzubrechen, die zu keinen zukunftsträchtigen Ufern mehr führten, und stattdessen ein Engagement zu übernehmen, mit dem er sich identifizieren konnte. Der Patient tauchte aus seiner Apathie auf, vollzog eine berufliche Kehrtwende, begnügte sich mit einem geringeren Einkommen, erfreute sich an einem für ihn interessanten Wirkungsbereich und gewann seine seelische Stabilität zurück. Die sowieso intakte Beziehung zu seinem Vater blieb davon unangetastet, obwohl der Vater über die abrupte Beendigung der Diplomatenlaufbahn seines Sohnes zunächst erschrocken war. Den Sohn aber wieder froh gesinnt zu erleben, wog alle seine Bedenken auf.
    Im beschriebenen Fall hat der Patient seinem Therapeuten buchstäblich zu wenig Widerstand geleistet. Er hätte die fruchtlose (und sicher nicht billige) Behandlung längst abbrechen sollen, um besseren Rat zu suchen. Was jedoch noch gravierender ist, ist der Umstand, dass er längst schon einen ganz anderen Widerstand hätte mobilisieren müssen, nämlich einen gegen ein Trägheitsmoment in sich selbst. Er merkte, er spürte, er wusste, dass er auf dem falschen Platz gelandet war. Er litt – und setzte seinen beruflichen Werdegang unverändert fort. Warum? Das geht aus Frankls Bericht leider nicht hervor. Es mag die Scham des Patienten gewesen sein, seinen Eltern und Bekannten einzugestehen, dass er sich in seiner Berufswahl geirrt hatte. Es mag die Angst gewesen sein, für untauglich gehalten zu werden. Oder auch die Angst, keine vernünftige Alternative zu finden und sozial wie finanziell abzurutschen. Es mag die Scheu vor der großen Anstrengung gewesen sein, die jegliches Umsatteln eben verlangt. Vielleicht ist es die Bequemlichkeit gewesen, die ihn von einer Umorientierung abgehalten hat. Oder es hat ihn der Reiz von Ansehen und Macht im Diplomatencorps daran gehindert, am erworbenen Status zu rütteln. Was es auch war,
dagegen
: gegen Scham, Angst, Scheu, Hang zur Bequemlichkeit oder Verlockungen wäre ein Widerstand des Patienten angebracht gewesen.
    Der Mensch – und nur der Mensch – ist in der Lage, sich geistig von seiner körperlichen und psychischen Befindlichkeit ein wenig zu distanzieren. Das ist eine wahre „Revolution der Evolution“! Kraft dieser Selbstdistanzierungsfähigkeit kann der Mensch sozusagen auf Abstand gehen zu dem, was in ihm „tickt“. Er kann Schmerzen widerstehen, Ängsten ins Gesicht lachen, Faulheit trotzen oder Machtgier überwinden. Er muss nicht Sklave seiner Triebe, Gefühle und Lerngeschichte bleiben,
er muss sich von sich selbst nicht alles gefallen lassen.
Wichtig ist nur, dass er sich an einer inneren Richtschnur entlangtastet, die ihm über feine Gewissensempfindungen signalisiert, was wert ist, beibehalten zu werden, und was
des Widerstandes bedarf.
    Frankls Patient hat den Absprung aus einem für ihn unpassenden Arbeitsplatz geschafft. Er ist in einen seinen Fähigkeiten entsprechenden Wirkungsbereich hinübergewechselt. Er ist zufrieden geworden. Prima. Aber hoffen wir, dass er aus dem Gespräch mit Frankl noch mehr profitiert hat. Hoffen wir, dass er gelernt hat, Widerstand zu leisten – nicht nur gegen irgendwelche Personen, die ihn manipulieren wollen, sondern vor allem seinen eigenen Schwächen gegenüber, die ihn nicht minder manipulieren, wenn er sie wuchern lässt.
    Es gibt einen gesunden Widerstand
    gegen alles
,
    was dem Gewissen zuwider ist.



Irrationale Schuldgefühle
    Seit Freuds Tagen hat die junge Wissenschaft der Psychotherapie eine Menge dazugelernt. Die Fachleute sind mit ihren Interpretationen vorsichtiger geworden, und nur „Ewiggestrige“ tappen noch in die Falle des Psychologismus. Es kommt jedoch vor, dass Patienten sich selbst fehlinterpretieren. Unter ihnen gibt es welche, die irrtümlich jedes Unglück in ihrem Umkreis eigenem Versagen zuschreiben und sich dadurch völlig überflüssige Schuldgefühle aufhalsen. In der Fachsprache spricht man dann von „irrationalen Schuldgefühlen“, die keinen realistischen Untergrund haben, sondern lediglich einer tief greifenden Unsicherheit und einem Mangel an Selbstbewusstsein entspringen. Selbstverständlich ist auch der Neigung zu irrationalen
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