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Bin oder die Reise mach Peking

Bin oder die Reise mach Peking

Titel: Bin oder die Reise mach Peking
Autoren: Max Frisch
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die Städte der Menschen, Dächer, Brücken, Buchten voll kräuselnder Bläue, Türme, Vögel darüber, die kreisen – Nach einer Weile fragte Bin:
    »Gehen wir?«
    Noch einmal dachte ich an das Abendessen. »Sobald wir in Peking sind«, sagte ich später im Gehen, »werde ich Rapunzel, meiner Frau, eine Karte schreiben! eine Karte mit all diesen Dächern und Türmen und Brücken und Segeln darauf, mit blühendem Lotos, mit blauen Vögeln darüber, die kreisen.«
    Ich sah es, das Unverhofe, mit bestürzendem Glück: weit konnte es nach Peking nicht sein, eine Stunde vielleicht oder zwei oder drei …

    S either sind Jahre vergangen.
    Das einzige, was immer wieder stört, das ist natürlich die Rolle unter dem Arm. Zwar schwer ist sie nicht. Man schlenkert sie. Man hält sie bald so oder so. Dann wieder, leicht wie sie ist, klemmt man sie einfach unter den Arm. Was mich stört, das ist anderes. Irgendwo in Peking, sagt man sich, wirst du sie liegen lassen! Man kennt sich wenigstens in seinen Mißgeschicken. Und dann, wenn man sie eines alltäglichen Tages wieder braucht, werde ich mich bestenfalls erinnern, wo ich sie zuletzt in den Händen gehalten, und eben diese leeren Hände betrachten … denn niemals werde ich wieder dahin gelangen … Was man in solchen Augenblicken erlebt, das ist nicht mehr und nicht weniger als ein Wunder, Gott verzeih mir, aber darüber täusche ich mich nicht, soof ich an eine Schleife unseres Weges komme und wieder hinunterschaue auf die blinkenden Dächer von Peking, die Türme, die uralten, die Menschlein in ihren gelben und flachen Hüten, Wasserträger, die in den wirren Gassen umherstehen und schwatzen, ihr tägliches Joch auf den Schultern, dahinter die Buchten mit kräuselndem Silber, mit Brücken und Segeln, mit blühendem Lotos, mit blauen Vögeln darüber, die kreisen … Eine Rolle, die man in Peking stehen ließe, wäre für immer verloren. Kein Stif kann sie uns holen. Ich hielt sie auch diesmal, daß sie mir fast in den Händen zerknüllte. Ohne sie, glaube ich immer, wäre ich selig gewesen.

    D er erste, der uns jenseits der chinesischen Mauer begegnete, war ein kleines Männlein aus braunem Sandstein. Mit verflochtenen Beinen hockte es da, lächelte mit beinah geschlossenen Lidern, und obschon ich nicht allzu genau weiß, worin ein Heiliger besteht, sagte ich sofort zu Bin: »Sieh da! ein Heiliger.«
    Bin nickte. Er nahm es platterdings an, man wüßte, was ein Heiliger ist, und nickte, wie wenn man sagen würde: Sieh da, ein Regenbogen! Hierzulande gab es viele Heilige, mag sein, bei uns aber gibt es keine … Das einzige, was mir bisher an Heiligen begegnete, ist eine freundliche Leihgabe, die zu Hause auf der tannenen Truhe steht, ein kleiner Buddha, genauer gesprochen, ein Lokeshvara, auch er mit verflochtenen Beinen, mit jener steinernen Geduld und einer heimlichen Milde und immer wieder mit einem befremdenden, bald mütterlichen, bald geisterhafen Lächeln, unerschütterlich, noch wo ihm die Arme zerschmettert sind. –
    »Wenn sie so dasitzen«, fragte ich Bin, »was
machen sie eigentlich?«
(Oh, diese westliche Frage!)
    Bin sagte:
    »Sie sitzen so da – zum Beispiel, wenn die Sonne untergeht über den violetten Hügeln der Wüste, und schauen die Sonne, nichts weiter. Sie schauen. Sie denken nichts anderes als eben die Sonne, so sehr, so innig, so ganz und gar, daß sie die Sonne noch immer und immer sehen, wenn jene, die wir die wirkliche nennen, lange schon untergegangen ist. Sie sitzen so da: sie können sie jederzeit wieder aufgehen lassen.«
    Wir gingen weiter.
    Da ich, wie vielleicht auch der Leser, nicht eigentlich wußte, was ich nun glauben oder auch nur denken sollte, die Arbeit des Heiligen betreffend, lag es mir nahe, ein wenig zu pfeifen, auf eine verlegene Weise bereit, mich andern Dingen hinzuwenden. Of blickte ich zurück, ob man die chinesische Mauer noch immer sähe, oder ich knüpfe wieder einmal meine Schuhnestel, oder ich knickte einen Zweig, steckte eine Blüte in den Mund …
    Ja, hier war es schon Frühling.
    Manchmal bleibt Bin wieder stehen, pflückt Beeren unter einem Wegsaum hervor, und natürlich hätte man auch lebhafe Lust darauf, allein ich sehe sie nie – immer erst dann, wenn Bin sie bereits in der Hand hat. Es überzeugt mich, daß es so sein muß. Bin ist mir stets um eine Gnade voraus, und dennoch, oder gerade darum, schlendere ich unsäglich gerne mit Bin.

    E ines Mittags, als ich erwachte, war es schon Sommer, und wir
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