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Bin oder die Reise mach Peking

Bin oder die Reise mach Peking

Titel: Bin oder die Reise mach Peking
Autoren: Max Frisch
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hielten ihre langen irdenen Pfeifen am Mund und träumten in die bläuliche Dämmerung, lächelnd, oder sie schauten auch ihrerseits wieder den Goldfischen zu. Sicher war das eine Spelunke. Mit dem Witz eines Mannes, der seine paar Bücher gelesen, vermutete ich sofort das Falsche; es waren nicht Päpste, nicht einmal kleine Pfarrer, die wir an diesem dämmerigen Orte ertappten, keine Biedermänner und Staatsräte, nicht einmal Lehrer, die hier, jenseits der chinesischen Mauer, ihrem unterdrückten Triebe frönten … Ich kannte nur einen, und ich kannte ihn als Jüngling, der sich rühmen durfe, daß er noch nie einen solchen Ort betreten hatte. Nunmehr ein Mann, der seinen Bart hatte wie graue Flechten an einer Bergföhre, saß er drüben in der Nische; er schien im Gespräch mit dem Heiligen, den wir schon einmal getroffen hatten, Der Heilige aus braunem Sandstein, der eben das Mädchen namens Pfirsichblüte auf den Knien trug, lächelte wie immer und sagte: »Da haben Sie nicht wohl getan, mein Freund. Da haben Sie nicht wohl getan.« Das Mädchen namens Pfirsichblüte lachte ebenfalls, legte ihre schmalen und dufenden Hände in den Schoß und ließ sich die Glocke ihres kupfernen Haares in den Nacken hängen. Natürlich war das eine Kurtisane.
    »Ich verstehe nicht«, sagte unser Freund, »ich verstehe nicht: Ihr nennt es einen Tempel, ich aber sehe an allen Wänden die unverschämtesten Bilder der Unzucht, die Lockung der Sinne –« »Warum nicht?« Die Pfirsichblüte lachte.
    »Es ist ein Tempel für die Dummen«, sagte der Heilige mit dem Lächeln, »aus der Erde sind wir gemacht. Wie aber, wenn wir die irdische Dummheit nicht leben, sondern aufsparen und aufsparen, wie wollen Sie denn jemals ein Weiser werden? Wer seine Erde nicht dem Feuer gibt, das sie verbrennt, wie sollte jemals ein Geist aus ihm werden? Passen Sie auf, mein Freund: Sie sterben als Erde.«
    So redete der Heilige, wie wir ihn nun einmal nannten, und wieder scherzte er mit dem Mädchen namens Pfirsichblüte, das eine Kurtisane war und nackt und das auf seinen Knien saß. »Mir scheint«, sagte ich zu Bin, »das ist ein merkwürdiger Ort. Kennst du den Mann, der in der Nische hinter uns sitzt?« »Hinter uns –«
    »Aber schau nicht hin. Es ist Anastasius Holder, der Maler, der vor kurzem gestorben ist …« Ich hatte ihn einmal in einer Berghütte getroffen. Er stand am Hüttenherd, damals, zerquetschte die Suppenwürfel zwischen den Fingern, als ich ihn plötzlich erkannte, und schon hatte ich mich erheben wollen, ihn zu begrüßen. Gott weiß, warum ich es damals nicht tat. Einen Augenblick zögerte ich, dann wurde es immer heikler, bewußter. Hemmungen, Zweifel! Ich hätte ja sagen können: Herr Holder, ich nehme es wenigstens an, daß Sie es sind, Sie haben einmal ein kleines Aquarell gemacht, das hat mir über die Maßen gefallen; vielleicht freut es Sie, das zu hören –
    Und da er mich anblicken würde:
    Später habe ich es sogar gekauf, das einzige übrigens, was ich je von einem Lebenden gekauf habe. Nämlich: es hatte einen Knick bekommen in der Mappe, wo es auflag, ich bekam es für dreißig Franken. Heute noch hängt es in meiner Bude, denken Sie, es ist mir noch immer nicht verleidet!
    Anastasius Holder, so dürfen wir annehmen, hätte darüber seine Suppe nicht anbrennen lassen; ein wenig hätte es ihn gefreut, ein wenig geärgert, ein wenig hätte er gelacht, und dann, glaube ich, hätten wir über den Neuschnee geplaudert und zusammen verzehrt, was jeder in seinem Rucksack hatte. Er hätte natürlich bald gemerkt, daß ich nichts von Malerei verstehe. Ein anderes ist die Mitfreude, wenn wir vor einem Bilde stehen und etwa sagen: Ja, so habe ich es auch schon erlebt! Wir loben, aber wir loben die Schöpfung schlechthin, nicht ihn, sondern die Wolken am wirklichen Himmel, das Leben in den eigenen Adern, das Meer, die Frauen, den lieben Gott. Das ist die Mitfreude, vielleicht das Beste, was einem Künstler begegnen kann. Denn da erst, wo wir so Unmittelbares nicht empfinden, rühmen wir ihn selber, seine Art, die Farbe aufzutragen …
    Indessen geschah überhaupt nichts, damals in der Berghütte, denn ich brachte es nicht über mich, ihn anzusprechen, ungewiß, wie er es aufnehmen möchte, und weil man immer Angst hat, es könnte peinlich sein. Nichts zu sagen, das war sichrer. Und so saß man denn da, jeder gabelte in seiner Büchse herum, und Holder, der das Aquarell gemalt hat, brockte Brot in seine dampfende Suppe,
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