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Bin oder die Reise mach Peking

Bin oder die Reise mach Peking

Titel: Bin oder die Reise mach Peking
Autoren: Max Frisch
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schmatzte, daß ich in der Folge nichts anderes mehr hören oder denken konnte. Am folgenden Tag schneite es. Auch Holder blieb den ganzen Tag in der Hütte, einmal redeten wir über das Wetter, er spaltete Holz, ich holte das Wasser am Gletscher. Er war, aus der sogenannten Nähe gesehen, ein ziemlich grober Mensch, der sich mit dem Handrücken schneuzte, und ein wenig schämte ich mich vor ihm selber über sein zartes, innig verträumtes, beinahe frommes und kindliches Aquarell; ich glaubte es ihm immer weniger. Er roch aus dem Mund. Fast aus Teufelei sagte ich einmal, als wir an den Pfosten der offenen Türe lehnten und die abendlichen Wolken sich röteten: Das sollte man malen! Es war Kitsch, und ich blickte nun Holder von der Seite an. Er stocherte mit einem Span zwischen den Zähnen. Malen? sagte er, indem er ausspuckte: Berge und Weiber sind da, damit man sie genießt, Malen ist sowieso ein Blödsinn! Am anderen Tag war er aufgebrochen, obschon der Nebel nicht nachlassen wollte, und unweit der Hütte, wie ich später aus der Zeitung erfuhr, zu Tode gestürzt.
    Seither habe ich ihn natürlich nie wieder gesehen … Jetzt, als ich mich endlich erhebe und auf ihn zutrete, fühle ich eine Erregung, eine Schwäche in den Knien, als gehe es um das Ungeheuerste; ich sage ihm, was ich ihm schon damals, zu Lebzeiten, hätte sagen können: »Ich habe eine Skizze von Ihnen sehr gern, ein Aquarell, nichts Großes –«
    Holder sitzt in der Nische, so, als höre er nichts, obschon ich es mehr als einmal sage, jedesmal lauter; er sieht den stummen Fischlein zu, die an der grünen Scheibe schweben, mit ihren Kiemen atmen.
    »Er ist tot«, sagt Bin.
»Ich weiß.«
»Er hört dich nicht.«
    »Warum hören sich denn alle andern?« Holder hockte so grenzenlos allein an diesem Ort; ich habe ihn immer für ziemlich berühmt gehalten, Anastasius Holder, und wäre es auch nur, weil ich seinen Namen auf einem Plakat gesehen habe.
    »Wahrscheinlich sind es Freunde gewesen«, sagte
Bin, »darum hören sie einander – die haben sich
schon im Leben drüben gehört.«
Ich kniete vor Holder.
    »Komm jetzt!« sagte Bin. Ich redete zu Holder:
    »Deine Bestattung, verehrter Freund, war scheußlich. Wir waren gekommen, in Trauer erschrokken, wir sahen einen Sarg und wußten nicht, was wir tun sollten. Überhaupt nichts. Wir waren nur Zuhörer, verstehst du, Zaungäste, wir standen da und blickten uns um, zu sehen, wer alles gekommen wäre, die meisten in schwarz, und ein Pfarrer, der gerade das Amt hatte, hielt einen Vortrag, einen möglichst passenden Vortrag, einen sehr menschlichen Vortrag. Man konnte ihn gut finden oder nicht. Es waren Meinungen eines Menschen, unserem Urteil unterworfen. Und nachher haben sie dich verbrannt, aber es gab keine Flamme, die zum Himmel schlug. Sie machten es mit bloßer Hitze, unsichtbar und sauber, ganz ohne Rauch, und auch dazu konnten wir nichts handeln, nichts tun, nichts beitragen. Unsere Trauer war an diesem Ort, der eine Kirche vorstellte, überflüssig. Ich sehe noch das hilflose Muster an der Decke, das ich die ganze Zeit ansah, während ich dachte: Unter Negern wäre das anders, ganz zu schweigen von alten Griechen, von Chinesen! Unter wirklichen Menschen, unter schöpferischen Völkern wäre das anders –«

    S päter, als wir die sonderbare Spelunke mit Kurtisanen und Goldfischen, mit Heiligen und Toten verlassen wollten, erschien noch ein ganzes Rudel von Matrosen. Die Nähe des Meeres! Ich sagte mir, das sei nicht verwunderlich. Sie setzten sich rittlings über die Sessel, laut, jugendlich, übermütig, tranken über die Lehne, und andere tanzten, bald war es ein tolles Gewimmel. Der Heilige lächelte wie immer. Man hat ihn nie anders gesehen. Schon weil er aus Stein ist. »Bin«, flüsterte ich, »ich glaube, das ist sie.« »Wer so?«
    Ich konnte meinen Blick nicht wieder von ihr lösen. Ihre liebe Gestalt, ihre wirbelnden Füße, ihr seliges Lachen. Sie tanzte mit fliegendem Haar, jung, ganz erstaunlich jung; sie flog wie ein Kreisel. Und bald war es das einzige Paar, das noch tanzte. Denn alle schauten zu, so herrlich konnten sie es, die beiden. Der blaue Matrose, lang wie er war, mußte auf eine possierliche Weise sich ducken, um sie mit Anstand halten zu können; so klein war sie, so jung. Sein Bändel flog in der Luf, und zwischen den beiden war Raum, um den sie tanzten, das Mädchen mit flatterndem Röcklein, aber sie blickte den Matrosen nicht an, sie kreiselte und tanzte und
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