Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bin oder die Reise mach Peking

Bin oder die Reise mach Peking

Titel: Bin oder die Reise mach Peking
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
Selbstmörder an diesem Abend noch locken konnte, das war die Bahn mit den kleinen Rennwagen, die man eigenhändig steuern durfe. Er hatte sein Leben lang noch nie gesteuert. Als er die sieben Runden nicht ohne Vergnügen gefahren hatte, stand er vor einer Bude, wo man Ballen werfen konnte; das hinwiederum kannte er. Und er ging weiter. Inzwischen war es dunkler geworden; eine Weile saß er nun draußen auf einer Bank, und überhaupt wäre es ein Irrtum, die Stimmung eines wirklichen Selbstmörders allzu düster anzunehmen; Schwermut ist ein großer Raum, ganze Karusselle haben Platz darin. Man hörte den Klimbim noch hier, die dröhnende Orgel, das Glöcklein des Herkules, das Hupen der kleinen Rennwagen, und was die Tat, die nun fällig wurde, ein wenig verzögerte, war einzig und allein die unerwartete Gegenwart eines Knaben, der sich in den Uferbüschen umher trieb. Auch diese Störung würde vorübergehen; unser Mann, der peinlich besorgt war, nicht aufzufallen, stellte sich an einen dicken Baum, tarnte sich mit der Gebärde eines alltäglichen Bedürfnisses, wobei ihm nicht entging, daß der störende Knabe, der eben noch auf den Ufersteinen gestanden, plötzlich verschwunden war. Natürlich hätten wir diesen Knaben schon früher erwähnen sollen, denn er war schon den ganzen Abend, als noch die Vögel zwitscherten, um die Fahrräder gestrichen; er schien uns damals nicht bemerkenswert. Inzwischen hatte er, wie sich später herausstellte, eine Pumpe gestohlen, die er zwischen den nächtlichen Ufersteinen verstecken wollte; er schlipfe aus, nichts leichter als das, und niemand würde es wundern, wenn unser Mann, der ohnehin ins Wasser hatte gehen wollen, den Augenblick erfaßt hätte; man könnte denken: da er keine Angst hatte umzukommen, mußte es für ihn nicht eben schwer sein, sich in eine Tat des Mutes einzulassen, und in der Tat, obschon dieser Gedanke natürlich nicht stimmte, er hatte den kleinen Lümmel schon bald an der Jacke, stellte ihn ans Ufer, das heißt, auch er war wieder ans Ufer getreten. Nun war er allein, naß wie ein Hund, der das Stecklein seines Herrn aus den Wellen geholt hat, und daß ihm sein Vorhaben, nachdem er eben ein Leben gerettet, einigermaßen verdorben war, wenigstens für diesen Abend, lag auf der Hand. Ebenso waren ihm die Zigaretten verdorben. Es blieb aber nicht dabei. Er hatte es an anderen Abenden, an anderen Orten noch zweioder dreimal versucht, wie er mir erzählte, allerdings mit immer weniger Glauben. Es zeigte sich, daß er sich vor dem Wasser, und zwar vor jeglichem Wasser, Fluß oder See, in einer Art und Weise, die zu erläutern nicht leicht sein würde, schämte. Man verstehe es recht: an seiner Schwermut änderte sich nichts, denn sie war echt. Dennoch lebte er weiter … So dieser Mann.
    Immer öfer sehen wir ihn, wie er es eines Tages,
    eines ganz gewöhnlichen Alltages, als die letzte Hoffnung empfindet, die ihn vor dem Grauen schützen kann, die Hoffnung, daß ihn zu Hause ein Brief erwarte. Durchaus nicht ein bestimmter, nicht ein vermutbarer Brief. Sondern irgendein Brief: Jemand schreibt ihm, er schreibe Erfreuliches oder Trauriges, aber er schreibt, er teilt sich mit. Und dabei müßte man wissen, daß er schon viele Briefe bekommen hat, kluge und schöne und erlesene Briefe, die man ohne Zögern drucken dürfe, um ihre Verfasser zu ehren, aber auch beglückende Briefe. Was hilf es! Heute soll einer kommen. Heute braucht er ihn. Er trüge ihn auf Händen der Ehrfurcht. Er ginge in jedes Wort hinein, nicht anders als die Biene, die sich in jede Blüte taucht. Er träte in das Schicksal des andern, so meint er, wie in einen Tempel … Natürlich nichts. Eine Broschüre vielleicht, eine Zeitschrif, das käufliche Wort, nicht einmal eine Todesanzeige. Das ist alles. Er sitzt an diesem Abend wie ein Gefäß, das ausläuf, einfach ausläuf, und das Leben, das ihm ausläuf, verdunstet – Ja, das ist alles. Eine mehr alltägliche Geschichte.
    M anchmal, wie gesagt, geschah es, daß ich Bin einfach vergessen hatte, wochenlang, vielleicht auch jahrelang –
    Eines Morgens, als ich wieder erwachte, sah ich mich auf einer Brücke, die Rolle unter dem Arm, ich stand, und da ich die Brosamen eines alten Semmels in der Manteltasche spürte, zog ich die Handschuhe aus und fütterte die Möwen. So gleichgültig war mir alles. Ich fütterte die Möwen. Bis ich nichts mehr hatte … Sie kreisten noch immer über meinem Kopf, ihr weißes Geflatter, ihr heiseres
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher