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Bin oder die Reise mach Peking

Bin oder die Reise mach Peking

Titel: Bin oder die Reise mach Peking
Autoren: Max Frisch
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Rußland seit dem letzten Krieg nicht mehr betreten; von Vater und Mutter, von Brüdern und Schwestern und Freunden weiß er nichts, keine Ahnung. Mit den Jahrzehnten, nur so viel weiß er, werden sie jedenfalls sterben. So lebt er einsam in diesem Gemäuer, und mehr, als ich vermuten konnte, erfahre ich auch aus seinen Worten nicht. Eine Zeitlang reiste er mit den Donkosaken, mit jenem Chor, der in den Weltstädten sang. Er erzählte es, während wir in den dunklen und feuchten Gewölben seines Klosters stehen; mit einer Kerze, die er vom Altar genommen, zeigt er mir die alten Fresken. Sie müssen wirklich sehr alt sein; sie zeigen ein Jüngstes Gericht, und wir sehen nicht allein Christus, auch Nestor, einen griechischen Poseidon mit Dreizack, die munter dabei sind. Hier unterhalten wir uns lange, und noch einmal, als ich ihn am Tor verlasse, schwöre ich im stillen, daß ich ihm später, wenn ich wieder zu Hause bin, schreiben werde … Ich schwöre es mir, während ich nachher unter dem braunen Tempel sitze, glücklich über die verzögernde Begegnung, stolz, daß ich nun endlich am Ziel bin. Ich weiß, wie schön es wäre, wenn nicht der Magen mich quälte, die Oliven, die einfach ranzig waren. Und wieder ist es im Augenblick, da ich das antike Teater betrachte, seine schwindelnden Stufen – es kommt: ich knie in die staubigen Disteln, erbreche, daß mir für eine Weile fast Sehen und Hören vergehen. Dann wische ich mich mit dem Taschentuch.
    »Siehst du«, sagte ich zu Bin, »genau so war es auch damals.«
    »Und das ist alles?« fragte lächelnd der Engel, der nun ebenfalls daneben stand, eher enttäuscht über die Szene, über den Aufwand an heiligen Stätten und das Ergebnis. »Ja«, nickte ich, »das ist alles.«
    »Und das hast du noch einmal erleben wollen,
dafür noch einmal deine Zeit gegeben, die kurz
und kürzer wird?«
»Ja.«
Bin blickte den Engel an.
    »Sehen Sie«, sagte er und zuckte die Achseln, »wir haben so Erinnerungen, wir Menschen. Sie halten uns immer wieder auf; all die Jahre denkt man an irgendeinen Morgen, einen Freitag, einen Morgen mit Oliven … Sie müssen das verstehen.«
    J a, die Jugend ist schön.
    Man war noch ein Jüngling … Auf einmal stand sie in der flachen Brandung einer Bucht, ihre Waden im tintenblauen Wasser. Vögel über den Felsen, Wind in den Pinien. Eine Weile blickte ich ihr zu, betroffen, beglückt, vielleicht auch ein wenig enttäuscht; all die Jahre hatte ich noch nie eine Frau gesehen, und dann, auf einmal, stand sie in einer namenlosen Bucht. Of hielt sie ihre Hände aufs Wasser, so, als stützte sie sich, schritt wie eine Seiltänzerin gegen die schäumigen Wellen. Man hörte, wie sie auf dem Sande des flachen Ufers verklatschten. Ich wußte nicht, ob sie mich bemerkt hatte; ich ließ mich von Fels zu Fels, da und dort konnte man sich an Sträuchern halten, Disteln waren auch dabei, ich blutete, in weißen Fahnen wirbelte der Staub. Dann teilte ich die letzten Agaven: ein Sprung – bis über die Knöchel stand ich im heißen Sand, in einem weichen und trockenen Glühen, es war ein Gehen wie in bösen Träumen; um nichts in der Welt hätte man schneller laufen können. Endlich aber, als ich um den letzten Felsen trat, ebenso schüchtern wie neugierig, stand niemand mehr draußen in der grünen Brandung. Die Bucht war leer. Indessen entdeckte ich eine große eiserne Tonne, die hier auf dem einsamen Strand lag, Gott weiß woher, wieso, wozu. Sie schimmerte rostig; meerwärts war sie offen. Aber man mußte über die Knie ins Wasser, wenn man hineinwollte, und das wollte ich natürlich. Schon draußen horte man, wie das Meer mit seinen Wellen hineinlallte, gegen die Wandungen platschte. Ich zweifelte nicht daran, daß die nackte Frau nur in dieser Tonne sein konnte, und mir schlug natürlich, jung wie ich war, das Herz in den Hals, als ich endlich vor der runden Öffnung stand. Hinter mir rauschte das offene Meer; es tönte wie eine Muschel am Ohr, wo man das eigene Blut hört. Man mußte sich ducken, wenn man in die rostige Tonne eintreten wollte; es war wohl ein Tank für Benzin, stammte von einem Schiff. Und vor mir war es nun dunkel, so daß man, eben noch von der Sonne und tausend Wellen geblendet, kaum etwas sehen konnte. Wie ein gefangenes Tier stand sie zuhinterst in ihrem Versteck, blickte gegen die grüne Helle, gegen den ebenso frechen wie verdutzten Eindringling. Ihr Haar war schwarz wie Pech, offen, naß, so daß es glänzte; sie grinste
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