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Bin oder die Reise mach Peking

Bin oder die Reise mach Peking

Titel: Bin oder die Reise mach Peking
Autoren: Max Frisch
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lagen an einem Fluß, einem Strom. Der Himmel war grau oder weißlich, und die Sonne, hinter Wolken verschimmelt, flimmerte nur matt und verhalten über dem unerhört breiten, immerzu murmelnden und gurgelnden Ziehen der braunen Wellen. So lagen wir lang, und in den Stauden ringsum, in den endlosen Wäldern rauschte der Wind. Es toste. Dann wieder, plötzlich, verebbte es, so daß man meinte, das Wasser würde nun lauter. Näher und heller, muntrer, lauter plauderte es um das Schweigen der Steine.
    »Bin«, sagte ich, »ich habe dir immer einmal schreiben wollen. Ach, in den letzten Jahren ist so vieles geschehen … Das heißt«, fuhr ich fort, »eigentlich ist mir, als wäre überhaupt nichts geschehen.« Bin schwieg.
    Ich höre eine Libelle wie damals, da wir die Schule schwänzten, in den Wiesen lagen, Halme um uns. Ich höre den Wind, der in den Wipfeln spielt, ganz droben, ganz ferne von hier, wo es heiß ist und schwül und still, als schlafe die Luf. Nur die Erde, die ich unter den offenen flachen Händen fühle, nur die Erde ist mulmig und freundlich und feucht … Wenn ich nicht weiß, wo in meinem Leben ich bin, wann ich bin, lege ich mich am besten auf den Rücken, die Hände unter den Nacken: man spürt seine Schwere. Droben das leichte und lichte und lautlose Ziehen der Wolken, Sonne darüber, sie als einziges bleibt, eine glimmende Insel im fliehenden Strom der Gewölke. Und doch, auf einmal, wird es Abend, und auch sie ist gesunken.
    »Bin«, sagte ich, »zuzeiten umflattert mich die Erinnerung an Dinge, die man erlebt haben muß – wie könnte man sich sonst erinnern! – eine Art von Glück, blau, nüchtern, rauschlos, ein Glück der morgendlichen Frühe, Erinnerung an ein götterhafes oder kindliches Jungsein. Aber ich weiß nicht, wo es war.« Bin lächelte.
    »Ich kenne das«, meinte er. »Man hat das. Man dichtet es immer in seine Jugend zurück, was jetzt, da wir es für Erinnerung halten, Gegenwart ist: jetzt, in diesem Atemzug, und zum erstenmal –«
    »Jetzt?«
    »Glück!« meinte er nach einer Weile. »Es machte mich immer so hilflos, im Augenblick wußte ich nie, was anfangen, ich trieb durch die Gassen, ich landete bei Frauen, ich ging und besoff mich. Vor Glück! Verkleidet aber – im Gewande der Erinnerung, im Schleier der Wehmut, im Glänze des Verlorenen – erschreckt es uns weniger.« So lagen wir lange und plauderten.
    Der Abend war schön. Auf einmal war der Abend über den violetten Bergen so schön, so lauter und golden, so heiter, daß ich mich nicht erinnere, einen schöneren schon erlebt zu haben, nicht einmal einen gleichen.
    Bin lachte:
    »Das ist die Jugend!« »Was?«
    »Wenn man sich nicht erinnert, daß man ein Schöneres schon einmal erlebt hat, nicht einmal ein Gleiches –.«
    Ich hatte mich auf die Ellbogen gestützt, um über den Fluß hinauszuschauen, und sah, was mich nicht gleichgültig ließ: ich sah die Ruhe, die bleibende Ruhe der fließenden Wellen, sah, daß die Ufer es sind, welche gleiten, die Steine am Ufer, sie stehen nicht, sie fahren wie spitze Schiffe, die sich durch die Wellen pflügen, und fahren stromaufwärts. Mit der ganzen rauschenden und kräuselnden Schleppe ihres Wellenkeiles fahren sie stromaufwärts. Und die Bäume, die knorrigen, die abendliche Wiese mit den weidenden Büffeln, das Moos, wo wir liegen und rasten, sie fahren stromaufwärts – und endlich, da ich alldies gewahrte und faßte, schreckte ich auf, sprang auf die Füße.
    »Bin!« rief ich, »Bin?« Er streichelte drüben einen Büffel …
    »Bin«, sagte ich, »ich glaube, es treibt uns ab. Indem wir meinen, wir bleiben am Ort, indem wir rasten und reden und weilen, treibt es uns ab –« Bin lächelte.
    »Ja«, sagte er wie aus alter Erfahrung …

    D ie schwarzen Büffel – in der Ferne das offene Meer, und hier, wo wir auf unserem Floße fuhren, war es eine Ebene mit endlosem Schilf, eine Wildnis mit Tümpeln und Büschen darin, mit Mücken, mit sirrenden Libellen und blühenden Seerosen – vor allem aber die schwarzen Büffel, die in den braunen Tümpeln lagen oder standen und uns anglotzten, unberechenbar in ihrer sturen Ruhe und Gewalt: auch das hatte ich schon einmal erlebt. Wir glitten vorbei –
    Zuzeiten ist mir, der Strom würde breiter und breiter, stiller auch wie reifendes Alter. Einmal müssen wir ans Meer kommen … Störche steigen empor aus dem Schilf, rauschen über unsere Köpfe und fliegen voran in die Weite des dämmernden Abends. Und hinter
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