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Bewegt Euch

Bewegt Euch

Titel: Bewegt Euch
Autoren: Hajo Schumacher
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Kapazität. Urvertrauen, das so wichtig sein soll fürs ganze Leben, wurde in diesen Momenten kindlicher Einsamkeit pulverisiert.
    Die Tür flog auf. »Na, wie geht’s uns denn?«, bellte Frau Doktor in die angstvolle Stille. Eine typische Erwachsenenfrage, auf die es nur eine Antwort gegeben hätte: Bis jetzt beschissen, aber Sie werden alles daran setzen, die Lage zu verschlimmern. Meine Mutter referierte technische Daten: Fieberkurvenver lauf, Tagesform, Stuhlgang. Ich schaute zu Boden, um diesem abschätzigen Blick zu entgehen. Kalter Abhörstahl traf meine Brust, der Holzspatel mein Zäpfchen, ein Trichter mit Taschenlampe meine Hirnrinde. »Wieder die Mandeln«, sagte die Ärztin resigniert. Ich glaubte kein Wort: Mandeln, immer Mandeln. Wahrscheinlich kannte sie gar keine ande ren Krankheiten.
    »Ich gebe Ihnen zum letzten Mal Penicillin«, sagte sie zu meiner Mutter. »Aber so geht das nicht weiter. Der Junge braucht Bewegung, an der frischen Luft.«
    Nein, bitte nicht. Alles, nur nicht nach draußen. Ich fühlte mich sehr wohl in unserer Drei-Zimmer-Wohnung. Stundenlang schnitt ich Produkte aus dem Quelle-Katalog aus und bastelte daraus Zeitschriften, während ich Märchenplatten hörte oder die acht Stunden lange Kompilation von Karnevalsschlagern, die mein Vater auf Tonband gesammelt hatte. Mit jener Grundnervosität, die mich stets auszeichnete, durchforstete ich Krimskrams-Schubladen nach Bastelmaterial, verknotete hingebungsvoll Schnürsenkel, baute Buden aus Bettdecken, vertrieb mir mit allerlei Unsinn die Zeit, bis im Fernsehen die Kinderstunde begann. Der Hase Cäsar war mein bester Freund. Weil mir das Starren in den nebligen Schwarz-weiß-Schirm bald zu fade war, entwickelte ich ein großes Talent, zeitgleich aus Halmasteinen Schlacht-Szenarien aufzubauen oder aus Mikadostäben und Dominoplättchen Städte zu errichten. Der Spielekoffer war mein zweitbester Freund. Einen Hund durfte ich ja nicht.
    Das vertraute Klappern in der Küche gab mir Sicherheit. Alle halbe Stunde fragte mich meine Mutter, ob ich Hunger hätte oder Durst. Hatte ich. Am liebsten Kakao mit Pulverinseln und Aldi-Kekse, oben Schokolade, unten Schwammkuchen, in der Mitte Orangenmarmelade. Wie sollte man da krank werden? Mir ging es gut im Schutz der heimatlichen Höhle.
    Ich fürchtete nur die Sommerferien. Dann musste ich wochenlang in den Hof, wo die anderen Kinder schaukelten, Kunststücke in Gummitwist versuchten oder Handstand gegen die Wand. Schaukeln bekam ich gerade noch so hin. Alles andere machte mir Angst. Am liebsten saß ich auf dem Rand der Buddelkiste und steckte Stöckchen in den Sand, bis ein Größerer mein Kunstwerk mit einem Fußtritt zerstörte. Prügeln gehörte nicht zu meinen Stärken. Schweigend trottete ich Richtung Treppenhaus. Die Kinderstunde hatte vielleicht schon begonnen. Der Spielekoffer wollte neu sortiert werden. Meistens hatte meine Mutter Erbarmen. Und ich hatte Hunger.
    Wenn ich Oberstabsärztin Kortmann richtig verstand, sollte fortan immer Sommer sein, dauerhafter Kontakt mit frischer Luft. Ich schluckte schwer. Die Mandeln brannten. Meine Mut ter nickte: erst Penicillin, dann vor die Tür. Ich wollte aber nicht. Wieder einmal überlegte ich, meine Habseligkeiten in ein zusammengeknotetes kariertes Küchentuch zu packen, um in die weite Welt zu ziehen, so wie ich es bei Mecki gesehen hatte. Zweimal hatte ich die Flucht bereits gewagt, doch beide Male hatte mich am Ende unserer Straße der Mut, vor allem aber die Kraft verlassen. Auf die Frage, wo ich denn gesteckt hätte in den letzten zwanzig Minuten, antwortete ich: »Im Keller.« Ich war nun mal nicht für Abenteuer geboren, sondern zum Fernsehgucken.
    In der Apotheke bekam meine Mutter das Penicillin und ich Traubenzucker. Das sei gesund, dachte man damals. Mit dem Rad fuhren wir nach Hause. Radfahren zählte für meine Eltern nicht zur Kategorie der Anstrengungen, sondern wie Treppensteigen oder Gartenarbeit zu den ganz normalen Alltagstätigkeiten. Ich fand es anstrengend. Dann endlich durfte ich zurück in mein Bett. Kopfkissen, Decke, Bücher und ein nie endender Strom von Lebensmitteln – was brauchte man mehr zum Leben?
    Als ich eines Tages, leider viel zu schnell genesen, aus der Schule kam, winkte meine Mutter mit zwei grauen Zetteln. »Wir gehen jetzt mittwochs zum Kinderturnen«, sagte sie mit angestrengter Fröhlichkeit. Ich spürte die nächste Infektion im Rachen. Liebe Mandeln, lasst mich jetzt nicht im
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