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Bewegt Euch

Bewegt Euch

Titel: Bewegt Euch
Autoren: Hajo Schumacher
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Höhepunkt war der Sturz meines Erzeugers auf einer Kreuzung, die am Samstagnachmittag glücklicherweise kaum befahren war. Und wieder lernte ich etwas über Prioritäten: Mein Vater sorgte sich weder um seine noch um meine Sicherheit. Zwischen den vorbeibrausenden Autos versuchte er, so viele Kartoffeln wie möglich vor dem Matschetod zu retten, nachdem er zunächst das kostbarste Gut geborgen hatte – sein Rad. Meine höchst ökonomisch wirtschaftende Mutter war indessen nicht bereit, die traurige Masse zu Püree zu verarbeiten, die wir in der Holzstiege nach Hause gebracht hatten. Die gute Nachricht verkündete mein Vater am nächsten Tag mit einem Pflaster auf der Stirn. »Dem Fahrrad ist nichts passiert.«

Danke, Deckarm

    Du musst erst springen und dann werfen – nicht umgekehrt.
    Eine der ersten Instruktionen von Handballtrainer Rolf Fiene
    Sonntag, 6. März 1975. Meine Eltern waren auf einen Eisenbahner-Geburtstag eingeladen, wo Kaffeekuchen nahtlos in Bierschnapslikör übergingen. Allein zu Haus lungerte ich vor dem Fernseher. Obgleich mir Sportübertragungen nicht viel bedeuteten, war ich an diesem Nachmittag nicht in der Lage umzuschalten. Die Hitze schwappte aus der Halle von Karl-Marx-Stadt unmittelbar auf mich. Die ARD übertrug live. Gebannt verfolgte ich ein Stückchen Weltgeschichte.
    Die DDR-Handballer waren eine Weltmacht, die westdeutschen ziemliche Würmer. Es ging um die Qualifikation für die Olympischen Spiele 1976. Eine Niederlage mit drei Toren würde der BRD-Auswahl reichen, um nach Montreal zu fahren. Der Klassenkampf beherrschte die Ränge. Die Halle kochte. Zwei Männer trotzten diesem Sturm. Vlado Stenzel, der Trainer. Und Joachim Deckarm. Der Gummersbacher besaß die Kühnheit, kurz vor der Pause einen Freiwurf direkt zu verwandeln. Zwei Minuten vor Spielende gelang Deckarm dann sogar das 9:8. Das reichte locker. Doch Hans Engel, der Superstar vom ASK Frankfurt/Oder, erhöhte für die DDR mit einem blitzartigen Doppelschlag auf 11:8. In der letzten Sekunde foulte West-Spengler dann Ost-Engel beim Torwurf – Siebenmeter. Entsetzen bei Trainer Stenzel und den Spielern, Deckarm, Klühspies, Heiner Brand. Stenzel war auf der Bank zusammengesunken; er wollte den Wurf nicht sehen.
    Nie zuvor in meinem Leben hatte ich bei einem Sportereignis derart mitgefiebert, nicht mal beim WM-Finale 1974, nachdem Gerd Müller das 2:1 gelungen war. Engel schritt an die Markierung, er wollte seinen Triumph krönen. Es war wie eine Hinrichtung. Ich krallte meine Finger ins Sofa. Ich sprang auf. Ich fiel auf die Knie. Ich wollte in den Fernseher kriechen. Ich schrie, betete, wollte einfach nur dabei sein. Erstmals wurde mir die Macht des Sports bewusst, die faszinierende archaische Gewalt, die im physischen und psychischen Leistungsvergleich steckt. In Wirklichkeit ging es um nichts, eigentlich aber um alles. Dann der Wurf. Doch Engel traf das Knie von Torwart Manfred Hofmann, der Ball flog an die Hallendecke – Sieg.
    Es war nicht der ärztliche Druck, nicht Trimmy, nicht mal das Leiden am Gehänsel, das mich trieb, in der Woche darauf beim SC Münster 08 zum Training der D-Jugend vorzusprechen, ganz allein, ohne Mutti. Es war dieser hoch emotionale Moment vor dem Fernseher, pure Begeisterung für Stenzel, Hofmann und all die anderen. Ich wollte Teil eines Teams sein. Joachim Deckarm war ab sofort mein Idol; seinen folgenschweren Unfall 1979 empfand ich als einen unglaublichen Schock, seine beschwerliche Rückkehr ins Leben als eine phänomenale Leistung, die mir bis heute größten Respekt abverlangt.
    »Die Wichtigkeit einer Erkenntnis beruht auf der Größe und Vielheit der Folgen«, sagte Immanuel Kant. Kleine Erkenntnisse können demnach viel Kraft entwickeln, je nachdem, was daraus wird. Das Handballspiel aus der Zeit des Kalten Krieges hatte große Folgen. Es hat mein Leben verändert, von Grund auf. Zum ersten Mal wollte ich mich bewegen – freiwillig.
    Ohne das Gesehene wirklich rationalisieren zu können, war mir instinktiv klar geworden, dass die Angst vor Anstrengung, die mich bis dahin gequält hatte, nur die vordergründigste und vielleicht unwichtigste Dimension des Bewegens war. Es ging um ganz andere Dinge: Ruhm und Spannung, Mit- und Gegeneinander, um die Macht des Willens und die noch größere Macht von Glück und Zufall. Der finale Siebenmeter hatte meine Seele berührt.
    Dieses Muster passiver Anteilnahme wiederholt sich seitdem mit größter Zuverlässigkeit. Ob ich Mark Allen
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