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Bewegt Euch

Bewegt Euch

Titel: Bewegt Euch
Autoren: Hajo Schumacher
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Stich.
    Kinderturnen ist schon grausam, bevor die erste Stunde überhaupt begonnen hat. Meine Mutter schleppte mich in ein Fachgeschäft, wo mir nicht etwa ein paar amtliche Sportschuhe spendiert wurden, sondern merkwürdige schwarze Kunstleder-Beutel, deren Rand von einem Gummiband zusammengezogen wurde. Es gab kein Vorne und Hinten, nur einen merkwürdigen Geruch, der wahrscheinlich von den Kindern stammte, die die Schlappen vor mir anprobiert hatten, um sie dann empört in die Ecke zu werfen. Ich verspürte Panikekel. Nein, ich wollte diese Dinger nicht anziehen. Andere Jungs in meinem Alter besaßen schon Fußballschuhe. Aber meine Mutter war unerbittlich. Damals wurde eine ewige Regel in mein Hirn gebrannt: Egal wie schlecht du bist, kaufe immer das beste Equipment. Es macht dich nicht schneller. Aber du fühlst dich besser.
    Wir waren dann etwa viermal beim Kinderturnen. Adipöse Drittklässler lagen im Jugendheim pumpend auf graublauen Matten. Nach dem allseits gescheiterten Versuch einer Brücke war die Stunde um. Als Einziger machte ich noch ein paar Rollen rückwärts. Aus unerfindlichen Gründen beherrschte ausgerechnet ich dieses Kunststück, obgleich ich nie vorher geübt hatte. Meine Mutter sah ein, dass ich überqualifiziert war. Außerdem quälten mich ausgerechnet mittwochs immer schwer erträgliche Kopfschmerzen. Vorboten von Mandeln, keine Frage.
    Tapfer unternahmen meine Eltern weitere Versuche, ihren bewegungsresistenten Drittgeborenen auf Trab zu bringen. Ein Schwimmkurs wurde abgebrochen, weil ich mich jedes Mal fürchterlich erkältete – die Macht der Autosuggestion. Tennis war zu teuer. Leichtathletik aussichtslos. PEKiP gab es noch nicht. Mein Bruder spielte Fußball im Verein. Ich guckte manchmal zu, wenn nichts im Fernsehen kam.
    Eines Tages wollte mein Vater mich für eine seltsame Beschäftigung namens Dauerlauf gewinnen. Etwa dreimal die Woche streifte er sich gegen halb sieben in der Frühe seinen dunkelblauen Trainingsanzug über, ein kunstfaseriges Modell aus den Altbeständen des Eisenbahner-Sportvereins. Die Sport schuhe bestanden aus einer etwa vier Millimeter starken Hartplastikplatte, kein Profil, kein Fußbett. Das Leder war so steif, dass es tief in die Haut unterhalb des Knöchels schnitt. Immerhin drei Streifen. Nach heutigen Maßstäben völlig unausgerüstet hechelte mein Vater eine halbe Stunde auf dem Weg an der Spundwand des Dortmund-Ems-Kanals entlang, von der Brücke des Prozessionswegs bis zur Brücke am 08-Stadion und wieder zurück. Mir war nie klar, was diese Lauferei sollte: Er brachte keine Briefe zur Post, holte keine Milch, guckte nicht im Kleingarten nach den Beeten. Bewegen ohne Erledigungsabsicht war mir noch fremder.
    Eines Morgens sollte ich ihn bei diesem offenkundig sinnlosen Treiben begleiten. Leider hatte ich nur die schwarzen Schlappen vom Kinderturnen. Die waren zwar kaum benutzt, aber zum Laufen auf körnigen Uferpfaden sicher nicht gemacht. In der Kategorie Freizeitschuh hatte die Industrie damals nicht viel zu bieten. Also zog ich Sandalen an, jene zeitlos unappetitlichen Modelle, aus denen die Socken vorne herauslappen.
    Mein Vater war ein Jünger der aufkommenden Trimm-Dich- Bewegung. Zum Aufwärmen für die Olympischen Spiele 1972 in München hatte Willi Daume den Deutschen ein kollektives Fitness-Programm verordnet. In jedem zweiten Park wurden Trimm-Dich-Pfade gelegt, die mit großem Ernst von ganzen Familien durchgeturnt wurden, statt Sonntagsspaziergang. Ich fürchtete vor allem die Reckstangen, von denen es viel zu viele gab, bestimmt an fünfzehn von achtzehn Stationen. Ich fühlte mich von Bewegungsanreizen umzingelt.
    Meine ärgste Sportverletzung zog ich mir auf einem Trimm-Dich-Pfad beim Urlaub im Schwarzwald zu. Statt der ewigen Hangelgriffe lockte eine Sprunggrube. Ich wollte meinen Eltern beweisen, dass ich trotz der ermüdenden Wanderei noch zu Spitzenleistungen in der Lage war. Ich nahm einen monstermäßigen Anlauf, traf den Balken vorschriftsmäßig und flog gefühlte zwölf Meter weit durch die Luft. Leider hatte sich im Laufe der Jahre der Sand aus der Grube verflüchtigt. Ich hätte genauso gut vom Drei-Meter-Brett in einen ausgetrockneten Pool hechten können. Die überaus langwierige Steißbeinprellung brannte mir eine weitere sportliche Grundregel ein: Was immer du versuchst, bedenke die Landung.
    »Trimmy« hieß ein quadratschädeliges Männchen in roter Hose und weißem Feinripphemd, das mit emporgerecktem Daumen
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