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Bewegt Euch

Bewegt Euch

Titel: Bewegt Euch
Autoren: Hajo Schumacher
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Handball, mein Initiationserlebnis. Zum ersten Mal spürte ich: Bewegen ist mehr als Anstrengen. Bewegen ist ein Kosmos aus Euphorie und Adrenalin, Nähe und Respekt. Als Student schließlich habe ich meinen einzigen großen Sportsieg errungen, ohne es allerdings zu merken. Was ich ebenfalls nicht gleich kapierte, war, wie sehr mich die gelegentlichen Trainings mit Joschka Fischer in Bonn für Jahre geprägt haben.
    So verliefen die ersten fünfunddreißig Jahre des Lebens ziemlich unstrukturiert, ein Bewegungsprofil war nicht zu entdecken. Dafür brauchte es erst eine ordentliche Krise.

»Der Junge braucht Bewegung«

    Was Ihr Kind in den ersten 15 Jahren nicht bekommt, ist ein Verlust für’s ganze Leben.
    Sanostol-Werbung 1970
    Ich hatte Angst vor Frau Dr. Kortmann. Sie hatte einen faltigen Hals, die stechenden Augen röntgten die kleinen Patienten. Ihre Stimme klang schlimmer als tausend Luftschutzsirenen. Und dann dieser Holzspatel.
    »Ich bin nicht krank«, flehte ich, auch wenn das Fieberthermometer 39 Grad zeigte. Das tat es leider viel zu oft. Ich war ein kränkliches Kind. Und meine Mutter unerbittlich. »Wir müssen zu Frau Dr. Kortmann«, befahl sie. Immer fuhren wir mit dem Rad.
    Das Wartezimmer quoll über vor röchelnden, hechelnden, apathischen Kindern. An den drei Holzklötzen klebten unzählige Infektions-Erreger. Wer nicht ernsthaft krank war, wurde es spätestens hier, im Vorhof zur Hölle.
    Ich fürchtete den kalten Stahl des Abhörgeräts, vor allem aber den Holzspatel, den mir die Ärztin gnadenlos in den Rachen schieben würde, bis mir Tränen in die Augen schossen. Wäre ich ein bösartiges Kind gewesen, hätte ich inständig gehofft, der mutwillig ausgelöste Würgereiz würde nicht immer nur leeres Glucksen hervorbringen.
    Vor allem fürchtete ich ihren triumphierenden Blick, der behauptete: Ich habe dich ertappt, Freundchen! Ich weiß alles: Du isst zu viel Süßes, zur Not sogar Würfelzucker. Du guckst zu viel fern. Du hast den Freischwimmer immer noch nicht, Radfahren strengt dich an, Laufen vermeidest du, wo es geht. Alle Kinder ziehen sich locker auf die Mauer, nur deine Arme sind zu schwach. Am Reck baumelst du wie ein Sack Schrauben im Wind. Das Schlimmste war: Sie hatte recht.
    Obgleich das Wartezimmer einem Lazarett im Russlandfeldzug glich, fühlte ich mich sicher inmitten des Elends. Hier war es noch auszuhalten. Doch es gab kein Entrinnen. Eine Sprechstundenhilfe bellte unseren Namen. Es ist mir schleierhaft, wie man Schwesternhäubchen und weiße Kittel sexy finden kann.
    Meine Mutter zog mich aus dem Stuhl in den Behandlungsraum. Sie wollte mein Bestes. Ich wollte fliehen. Sie entkleidete mich bis auf die Unterwäsche. Das ärmellose Hemd war braun gesäumt, der Stoff frotteeartig, mit Bäumchen, Trompeten oder Bällen bedruckt, unempfindlich. Ich fror trotz der Speckschicht, die einem Baby-Orca alle Ehre gemacht hätte. So zitterte ich dem Moment entgegen, da die Tür auffliegen würde. Frau Dr. Kortmann würde meine Mutter knapp begrüßen, mir einen vernichtenden Blick zuwerfen und abwesend durch meine umfängliche Patientenakte blättern.
    Mein kurzes Leben raste wie ein Horrorfilm durch meinen Kopf. Die garstige Mutter eines Mitschülers machte seit Jahren böse Scherze über mein ins Teigige spielende Bindegewebe. Beim Fußballspielen auf dem Bolzplatz war ich der Einzige, der am Rand stand. Ich versuchte mich als Spieler anzudienen, indem ich den Ball aus dem Gebüsch holte. Einmal war ich Torwart, für etwa sechs, sieben Minuten. Dann verscheuchte mich einer der Größeren. »Wir spielen lieber mit einem Mann weniger«, rief er. Er schaute mich an wie Frau Dr. Kortmann.
    Das Diskriminieren von muskulär nicht optimal entwickelten Heranwachsenden ist keine Eigenart der Castingshow-Ära. Die Siebzigerjahre waren mindestens so brutal. Ich fürchtete den Moment, da Frau Dr. Kortmann feststellen würde: »Der Junge hat ja gar keinen Brustkorb.« Manchmal kniff sie auch prüfend in meinen Bauch. Oder ließ mich Übungen machen, von denen sie wusste, dass ich scheitern würde. Mit den Fingerspitzen auf den Boden zum Beispiel. »Und Knie durchdrücken!«, befahl sie so laut, dass selbst die fiebrigsten Kinder im Wartezimmer aufschreckten. Ich meinte, die ganze Praxis lachen zu hören. Meine Mutter lachte nicht. Sie brachte der Ärztin Ehrfurcht entgegen. Meine Mutter achtete Autoritäten, was zu Loyalitätskonflikten führte: hier ihr armseliger Sohn, dort die medizinische
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