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Bewegt Euch

Bewegt Euch

Titel: Bewegt Euch
Autoren: Hajo Schumacher
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Anwurfzeit und Treffenszeit mindestens eine halbe Stunde auseinanderliegen. Als wir die Räder vor der Halle abschlossen, kam Trainer Fiene angestürzt. »Umziehen, aufs Feld«, kommandierte er. Mein Vater war beeindruckt. Offenbar bestanden Chancen, dass ich bereits vor meiner Einberufung zur Bundeswehr diszipliniert würde. Die Aufregung des Trainers erklärte sich rasch: Er hatte einen Spieler zu wenig. Besser ein Untalent als Unterzahl. Nicht meine handballerische Qualität war gefragt, sondern reine Existenz. Ein Karrierestart als Füllmaterial.
    Ich fand mich ziemlich gut auf dem Feld. Dass Trainer Fiene mit sehr rotem Kopf unablässig in meine Richtung brüllte, hielt ich für die verdiente Anfeuerung. In Wirklichkeit war der gute Mann dicht am Infarkt, weil wohl kein Spieler je so viel in so kurzer Zeit falsch machte wie ich. Es war halt keine Zeit mehr gewesen, die Regeln in Ruhe durchzugehen.
    Immerhin gelangen mir ein paar Tore, auch wenn ich sehr viele Versuche dafür brauchte. Ich war allerdings auch gehandicapt von diesem vermaledeiten linken Segelschuh, dessen Sohle sich ab der fünften Spielminute abzulösen begann. Meinem Vater war es ausgesprochen peinlich, als Trainer Fiene zur Pause fragte, wo denn meine richtigen Sportschuhe seien. Die Wahrheit lautete: Ich hatte keine. Mit einem Weckgummi versuchte mein handwerklich begabter Vater, den Ablösungsprozess zu stoppen. Aber alles, was bremste, war sein Sohn. Das Gummi verstärkte die Bodenhaftung erheblich.
    Egal. Zum ersten Mal in meinem Leben heulte ich nicht über blutige Knie, sondern betrachtete sie als Trophäen eines heroischen Kampfes. Ich war Deckarm, und der Rest der Welt war DDR, auch wenn ich in der zweiten Halbzeit nur noch sporadisch zum Einsatz kam, da inzwischen ein weiterer Knirps aufgetaucht war. In meiner Erinnerung haben wir das Spiel haushoch gewonnen, und zwar meinetwegen. In Wahrheit ging die Partie wahrscheinlich deutlich verloren – und zwar meinetwegen.
    Was wirklich verbürgt ist: Gleich am Montag betrat mein Vater mit mir ein richtiges Sportgeschäft. Als Besitzer eines amtlichen Paares Hallenhandballschuhe, schwarz mit drei orangen Streifen, trat ich wieder auf die Straße. Das Modell hieß »Brüssel«, warum auch immer. Ich war ein neuer Mensch, ein richtiger Sportler. Bis heute ziehen mich Sport- und Ausrüstungsgeschäfte magnetisch an: Diese Läden verwandeln Menschen in Macher, sie laden Durchschnitt mit Selbstvertrauen auf. Kein Auto, kein Dreireiher schafft dieses Gefühl von Großartigkeit, das ein Paar sündteurer Spezialschuhe auslöst, ganz gleich ob fürs Bergsteigen, Sprinten, Radfahren oder Langlaufen. Ausnahme: schwarze Gymnastikschlappen.
    Was bei Rolf Fiene begann, sollte mich fünfundzwanzig Jahre begleiten. Und ich bereue keine Sekunde. Dieser Mannschaftssport hat mein Leben in vielerlei Hinsicht bereichert. Man mag über Loriots Jodeldiplom grinsen, aber: Handball war mein Eigenes, das mich stolz machte, auch wenn ich nie über die Kreismeisterschaft hinauskam. Die wirklichen Erfolge wurden mir erst später bewusst. Da war der teigige Kinderleib, der einen Hauch von Kontur bekam. Da waren Kameraden mit ihrer derben Herzlichkeit, die mich Respekt vor der Leistung anderer lehrten, aber auch erste Selbstbehauptung. Da waren wochenlange Turniere in Schweden und Italien, die meine Ferien mit Spaß füllten. Da war der Sportlehrer Helmut Martin, der uns systematisches Training und erste Spielzüge beibrachte. Da war das wachsende Verständnis für ein komplexes, schnelles, hartes, wunderschönes Spiel, das Hektoliter von Adrenalin freisetzte. Da waren Partys, grobe Scherze, schmerzhafte Niederlagen, böse Fouls, da waren Siege und vor allem Freundschaft.
    Jener einsame Fernsehnachmittag immerhin hatte eine Fähigkeit gefördert, die der Neuro-Wissenschaftler Manfred Spitzer für ebenso zentral wie vernachlässigt hält beim Aufziehen von Kindern: Selbstkontrolle, also die Kunst, sich aus eigener Kraft und Vernunft durchs Leben zu navigieren. Langzeitstudien in Neuseeland, England und Wales haben ergeben, dass Selbstkontrolle für den Lebensweg so elementar ist wie der sozio-ökonomische Status der Eltern oder der Intelligenzquotient.
    Regelmäßiger Sport, gerade in einer Mannschaft, kann Kindern diese Selbstkontrolle beibringen: Sie müssen sich einordnen, Leistungen anderer akzeptieren, immer komplexeren Spielabläufen und Regelwerken folgen, am Ende aus eigenem Antrieb. Ich bin sicher, dass der
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