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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne
Autoren: Gaute Heivoll
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Land einen großen Vogel. Er balancierte auf einem Bein am Ufer, den Kopf und den langen, spitzen Schnabel gesenkt. Es war ein Graureiher. Ich wartete darauf, dass er sich in die Luft erhob, nach vorn fiel oder zumindest das Bein wechselte. Aber er tat nichts. Er stand einfach nur regungslos da, bis ich aufstand und nach Hause ging.
    So vergingen die Tage. Ich saß einige Stunden dort, vor mir den Livannet. Versuchte vergeblich anzufangen. Schließlich stieg ich die steile Treppe hinunter, die man extra für mich an die Außenseite des Gebäudes gebaut hatte, und fuhr die wenigen hundert Meter zum Laden, um einzukaufen. Ich schlenderte in der hellen, angenehmen Ladenatmosphäre umher, kaufte mir etwas Milch, ein wenig Brot, ein bisschen Kaffee. Es tat gut, nach etwas Handfestem und Einfachem zu greifen und es in den Einkaufswagen zu legen. Hin und wieder traf ich zwischen den Regalen Leute, die ich kannte. Menschen, die mich mein ganzes Leben kannten, die meine Eltern und Großeltern kannten, die mich als Kind gesehen hatten, die mich hatten aufwachsen und aus dem Ort ziehen sehen, die gesehen hatten, wie ich Schriftsteller wurde, und die nun mit Freude zur Kenntnis nahmen, dass ich wieder zurückgekommen wa r – obwohl ich immer wieder betonte, es würde lediglich für kurze Zeit sein. Ich sei nicht gekommen, um zu bleiben, sagte ich, aber jetzt, gerade jetzt, bin ich hier.
    Als der Sommer vorbei war, hatte ich mit meinem Buch über die Brände noch nicht begonnen. Irgendetwas leistete Widerstand, ohne dass ich genau sagen konnte, was es war. Ich hatte mir inzwischen einen Überblick über die Ereignisse verschafft, aber bisher mit keinem der Beteiligten gesprochen. Ich war die Zeitungen und Interviews durchgegangen, und ich hatte mir die Beiträge angesehen, die damals im Fernsehen gezeigt wurden. Ich spielte sie mir wieder und wieder vor. Sie waren auf eine DVD gebrannt, die mir das NRK aus Oslo geschickt hatte. Als ich sie mir das erste Mal ansah, war ich sehr gespannt, beinahe nervös. Ich saß daheim, allein im Haus in Kleveland, steckte die Scheibe in den Schacht und sah sie im Player verschwinden. Es war das erste Mal, dass ich bewegte Bilder von der Gegend sah, in der ich geboren wurde; von Finsland im Sommer 1978, der Gegend, auf die ganz Norwegen an jenem Abend vor dreißig Jahren starrte, als der Beitrag gesendet wurde. Es dauerte einige Sekunden, dann kam das Bild und ich drückte auf ›play‹. Ich fand mich sofort zurecht, obwohl etwas Fremdes und kaum Wiederzuerkennendes über dem Ganzen lag. Irgendetwas hatte sich verändert, aber ich wusste nicht, was. Der Wald? Die Häuser? Die Straßen? Ich weiß es nicht. Die Bilder hatten etwas Fernes und Vergangenes an sich, aber dennoch sah ich, dass es sich um meine Heimat handelte. Es ist doch Kilen, ging mir durch den Kopf, und dort liegt der funkelnde Livannet beinahe genauso wie heute, da ist die langgestreckte Ebene von Brandsvoll, die Hochspannungsleitungen, die sich wie Narben durch die Gegend ziehen, und das Haus von Anders und Agnes Fjeldsgår d – so gut wie unverändert. Alles war da, und alles sah beinahe so aus, wie ich es kannte. Die ganze Reportage strahlte eine paradoxe Ruhe aus. Zu einer langsamen Kameraführung lieferte der Reporter einen sehr ausführlichen Bericht, die Bilder glitten bedächtig über den Bildschirm. Die Langsamkeit und der umständliche Reporter ließen den ganzen Beitrag relativ undramatisch erscheinen. Man sah wogende Wälder, einen hohen Himmel, eischneeleichte Wolken und regungslose Vögel auf Telefondrähten, eine schwache Brise strich durch das Laub der Bäume. Es wurden Häuser, Autos und Wäsche im Wind gezeigt. Es war ein völlig beliebiger, friedvoller Sommertag im Jahr 1978, und es hätte ebenso gut zehn Jahre früher oder zehn Jahre später sein können. Eine zeitlose Landschaft, und doch sollte ich später in genau dieser Landschaft aufwachse n – und sie im Grunde nie verlassen. Es schien lange her zu sein, dennoch hatte ich das Gefühl, als könnte ich jeden Moment den Blick vom Fernseher heben, aus dem Fenster schaue n – und dort draußen hätte sich nichts verändert. Die schwarzen, qualmenden Brandstätten, die wenigen Menschen, die zusammenliefen und nun in zufälligen Grüppchen die Ruinen umstanden. Sie waren noch immer dort. Mütter mit Kindern auf dem Arm. Jugendliche, die über den Fahrradlenkern hingen. Ältere Leute, die dicht beieinander standen, als würden sie sich gegenseitig stützen,
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