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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne
Autoren: Gaute Heivoll
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einigen hundert neugierigen Italienern stand, geschah dasselbe. Oder beinahe dasselbe. Denn jetzt entdeckte ich einige bekannte Gesichter in der Menge. Im ersten Moment wusste ich nicht, wer sie waren, aber ich wusste, dass ich sie kenne, und ich begriff nicht, warum niemand zu mir gekommen war, bevor ich auf die Bühne ging, denn das ist doch normal, wenn alte Bekannte sich so weit von zu Hause entfernt begegnen. Es gelang mir nicht, sie einzuordnen, doch dann fiel mein Blick plötzlich auf Lars Timenes, den ich noch aus der Zeit kannte, als er in der stillgelegten Telefonzentrale von Kilen wohnte. Meine Augen hielten sich geradezu fest an seiner kleinen, erbärmlichen Gestalt, und ich erinnerte mich, wie er gewöhnlich mitten im Zimmer auf einem Stuhl gesessen hatte, gnadenlos beleuchtet vom flackernden Licht des Fernsehers. Kurz darauf entdeckte ich Nils, auch er stand vor der Bühne. Nils, den ich eigentlich nur als freundlichen Nachbarn in Erinnerung habe. Dort stand Nils, und dort stand auch Emma, die normalerweise im Flur des Pflegeheims saß und mich anstarrte, wenn ich meinen Vater besuchte. Und ich sah auch ihre Tochter Ragnhild, ein erwachsenes Kind, das am anderen Ende des Landes wohnte, aber jeden Sommer nach Hause kam und wie eine Fremde redete. Dort standen Ragnhild und Tor, der sich eines Nachts nach einem Fest hinter dem Haus erschossen hatte; und ich entdeckte auch Stig, neben dem ich im Kinderchor stand, wenn wir unter den drei römischen Bögen in der Kirche sangen, unter dem Bild des Mannes mit der Hacke im Bethaus oder im Pflegeheim von Nodeland. Stig, der plötzlich im Wasser verschwand, immer tiefer sank und erst heraufgeholt werden konnte, als es zu spät war. Stig, der es gerade mal bis zum Stimmbruch geschafft hatte, stand ebenfalls unter den Zuhörern. Und es waren längst noch nicht alle. Teresa stand dort. Teresa, bei der ich einen ganzen Winter Klavierspielen lernte. Immer stand sie ein wenig gebückt und abwartend an meiner Schulter, und nun stand sie dort zwischen all den anderen und verfolgte das Geschehen. Und noch mehr waren gekommen. Jon, der Lehrer meines Vaters, den jeder Lehrer-Jon nannte, um ihn von den anderen im Ort zu unterscheiden, die ebenfalls Jon hießen. An Lehrer-Jon erinnerte ich mich vor allem wegen der Elchjagd, weil er normalerweise vor allen anderen aufbrach. Er ging bereits in der Dunkelheit los, und wenn die eigentliche Jagd begann, hatte er bereits mehrere Stunden auf dem Posten gesessen und gewartet; und nun stand er hier vor mir und wartete. Und Esther war da. Esther, die immer den Weihnachtswichtel spielte, wenn wir bei Großmutter feierten. Esther, die alles in mir zum Schmelzen brachte. Esther war hier. Und ein Stück von ihr entfernt stand Tønnes. Tønnes, der nur wenige Tage nach Großmutter starb, als hätte er es nicht ertragen, der einzige noch lebende Nachbar zu sein. Und ich entdeckte noch viele andere. Viele, die ich jetzt wiedererkannte und die ich irgendwann einmal gesehen hatte, vielleicht am Schalter im Postamt oder vor dem Postkartenständer in Kaddebergs Laden. Oder bei der Weihnachtsfeier im Bethaus, sobald die Stühle an die Wände geschoben wurden, um Platz zu schaffen für vier Kreise, die in entgegengesetzter Richtung um den Baum tanzten, während der Schnee gegen die Fensterscheiben wirbelte und man vom Singen heiße Wangen bekam. Ich hatte das Gefühl, sie alle zu kennen, ohne zu wissen, wer sie waren. Auch diejenigen, die ich noch nie gesehen hatte. Zumindest wusste ich, dass auch Johanna und Olav vor der Bühne standen; Kåre hatte sich mit seinen Krücken möglicherweise ein wenig abseits platziert, in der Dunkelheit ließ es sich unmöglich erkennen. Vielleicht waren Ingemann und Alma auch da. Vielleicht stand Alma dort mit zwei gesunden Beinen, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Und wer weiß, ob Dag nicht auch dort stand. Vielleicht hatte er die Arme über Kreuz gelegt, ganz hinten auf der Treppe vor der Kirche, so dass ich ihn nicht sehen konnte.
    Ich habe keine Ahnung, woher sie kamen, aber sie standen dort, stumm, ernst, bleich und abwartend. Sie warteten, dass ich anfing.
    Sie waren gekommen, um mir zuzuhören.
    Irgendwie gelang es mir, mich so weit zusammenzureißen, dass ich die drei, vier Seiten lesen konnte, die ich vorbereitet hatte. Ich las die Geschichte vom Vater, der von der Leiter fällt, und dem Sohn, der weiß, dass es ihm nicht gelingen wird, ihn aufs Sofa zu tragen.
    Als ich zu Ende kam, brach
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