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Beton

Beton

Titel: Beton
Autoren: Thomas Bernhard
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meinen Kopf. Nach dem Tod unseres Vaters, drei Jahre nach dem Tod unserer Mutter, verschärfte sich ihre Rücksichtslosigkeit mir gegenüber. Sie war sich immer ihrer Stärke, gleichzeitig meiner Schwäche bewußt. Diese Schwäche meinerseits hat sie zeitlebens ausgenützt. Wasunsere gegenseitige Verachtung betrifft, so hält sie sich seit Jahrzehnten die Waage. Mich ekelt vor ihren Geschäften, sie ekelt vor meiner Phantasie, ich verachte ihre Erfolge, sie verachtet meine Erfolglosigkeit. Das Unglück ist, daß sie das Recht hat, jederzeit, wann sie will, in meinem Haus ihr Quartier aufzuschlagen, dieser fürchterliche Passus im Testament meines Vaters ist für mich entsetzlich. Sie meldet sich ja meistens überhaupt nicht an, ist aufeinmal da und geht, als ob es zur Gänze ihr gehörte, durch mein Haus, in welchem sie ja nur ein Wohnrecht hat, aber dieses Wohnrecht ist ein lebenslängliches und es ist nicht räumlich beschränkt. Und wenn es ihr einfällt, irgendwelche zwielichtigen Freunde mitzubringen, kann ich dagegen nichts tun. Sie breitet sich in meinem Haus, als ob es ihr allein gehörte, aus und verdrängt mich und ich habe nicht die Kraft, mich dagegen zu wehren, ich müßte ein ganz anderer Charakter, ein ganz anderer Mensch sein. Dann weiß ich nicht, bleibt sie zwei Tage oder zwei Stunden oder vier oder sechs Wochen oder überhaupt mehrere Monate, weil es ihr in der Stadt aufeinmal nicht mehr gefällt und sie sich die Landluft verschrieben hat. Wie sie mein lieber kleiner Bruder sagt, davor ekelt es mich. Mein lieber kleiner Bruder , sagt sie, jetzt bin ich in der Bibliothek, nicht du und sie fordert tatsächlich, daß ich, selbst wenn ich schon eingetreten bin oder überhaupt schon längere Zeit vor ihr in der Bibliothek gewesen bin, die Bibliothek augenblicklich verlasse. Mein lieber kleiner Bruder, was hast du davon, daß du diesen ganzen Unsinn studiert hast, krank bist du davon, schon fast verrückt, eine traurige, komische Figur , hat sie am letzten Abend gesagt, um mich zu verletzen. Seit einem Jahr faselst du von Mendelssohn Bartholdy, wo ist dein Werk?, sagte sie. Du gehst nur mit Toten um, ich mit den Lebenden, das ist der Unterschied. In meiner Gesellschaft sind lebendige Menschen, in deiner nur Tote. Weil du vor den Lebendigen Angst hast , sagt sie, weil du nicht den geringsten Einsatz zu leisten gewillt bist, den Einsatz, der zu leisten ist,wenn der Mensch mit lebendigen Menschen umgehen will. Du sitzt hier in deinem Haus, das nichts anderes als eine Gruft ist und pflegst den Umgang mit den Toten, mit Mutter und Vater und unserer unglücklichen Schwester und mit allen deinen sogenannten Geistesgrößen! Es ist erschreckend! Tatsächlich hat sie recht, denke ich jetzt, sie sagt die Wahrheit. Mit der Zeit habe ich mich vollkommen in dieser Gruft, die mein Haus ist, verrannt. Ich stehe in der Frühe in der Gruft auf und renne den ganzen Tag in der Gruft hin und her und lege mich spät in der Nacht schlafen in dieser Gruft. Dein Haus!, rief sie mir ins Gesicht, deine Gruft! Sie hat ja recht, sagte ich mir jetzt, alles, was sie sagt, stimmt, ich gehe mit keinem einzigen lebendigen Menschen um, habe sogar den Kontakt mit den Nachbarn aufgegeben, außer, wenn ich mich mit Lebensmitteln zu versorgen habe, gehe ich ja überhaupt nicht mehr aus dem Haus. Und ich bekomme auch beinahe keine Post mehr, weil ich selbst keine Briefe mehr schreibe. Wenn ich essen gehe, fliehe ich, kaum daß ich eingetreten bin und meine Mahlzeit, vor welcher es mich ekelt, gegessen habe, aus dem Gasthaus. So kommt es, daß ich kaum mehr mit einem Menschen spreche und ab und zu habe ich das Gefühl, ich kann überhaupt nicht mehr sprechen, ich habe das Sprechen verlernt, ungläubig mache ich eine Sprechübung, um festzustellen, ob noch ein Laut aus mir herauskommt, denn selbst mit der Kienesberger rede ich die meiste Zeit nichts. Die macht ihre Arbeit, ich erteile ihr keine Befehle, manchmal habe ich sie überhaupt nicht wahrgenommen und sie ist schon wieder weg. Warum habe ich eigentlich tatsächlich den Vorschlag meiner Schwester, für ein paar Wochen zu ihr nach Wien zu gehen, abgelehnt, rüde, als hätte ich eine bösartige Beleidigung zu parieren gehabt? Was bin ich für ein Mensch geworden seit dem Tod der Eltern?, fragte ich mich. Ich hatte mich auf den Vorhaussessel gesetzt und jetzt fror mich aufeinmal. Das Haus war nicht leer, es war tot. Es ist eine Gruft, dachte ich. Aber sind außer mir noch andere Menschenin
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