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Beton

Beton

Titel: Beton
Autoren: Thomas Bernhard
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neuen zu kochen, hörte ich mehrere Male meine Schwester sagen, komm doch zu mir nach Wien, ein paar Wochen, du wirst sehen, es hilft dir, es reißt dich aus allem heraus, aus dir selbst heraus , hatte sie mehrere Male betont. Allein die Vorstellung, in Wien mit meiner Schwester zusammensein zu müssen, verursachte mir Übelkeit. Und wenn sie hundertmal recht hat, ich werde das niemals tun. Wien ist mir verhaßt. Ich laufe zweimal die Kärntnerstraße und den Graben auf und ab und werfe dann noch einen Blick in den Kohlmarkt hinein, das genügt, daß es mir den Magen umdreht. Seit dreißig Jahren dasselbe Bild, dieselben Menschen, dieselben Stumpfsinnigkeiten, dieselben Infamien, Niederträchtigkeiten, Verlogenheiten. Sie habe sich, im obersten Stockwerk ihres eigenen Hauses auf dem Graben (!) eine dreihundert Meter große vollkommen neue luxuriöse Wohnung gebaut, die solle ich mir anschauen. Ich denke nicht daran, dachte ich und kaute an meinem alten Brot. Sie war hergekommen, sagte ich mir, nicht nur, wie sie mir glauben machen wollte, um einen Kranken, möglicherweise einen Todkranken zu behandeln, der ich wahrscheinlich wirklich bin, sondern einen Verrückten, aber das getraute sie sich denn doch nicht auszusprechen. Sie behandelt mich ja vollkommen wie einen Verrückten, so behandelt man nur einen Verrückten, einen Wahnsinnigen, mußte ich mir, mein Brot kauend, sagen. Am Ende hatte sie aber doch ganz deutlich gesagt, mein Besuch bei dir hat, wie ich sehe, nichts genützt. Immerhin, ich habe ein paar gute Geschäfte mit deinen Nachbarn gemacht , so sie. Unverfroren, kalt, berechnend. Dir ist nicht zu helfen, dir kann niemand helfen, hat sie bei unserem letzten Mittagessen gesagt. Du verachtestalles, hat sie gesagt, alles auf der Welt, alles das, das mir Vergnügen macht, verachtest du. Und vor allem verachtest du dich selbst. Du bezichtigst alle aller Verbrechen, das ist dein Unglück . Das hat sie tatsächlich gesagt und ich hatte es nicht in dem ganzen Umfang seiner Unerhörtheit wahrgenommen, erst jetzt ist es mir klar geworden, daß sie sozusagen den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Mir macht das Leben Spaß, obwohl auch ich meine Leiden habe, jeder hat diese Leiden, mein lieber kleiner Bruder, aber du verachtest das Leben, das ist dein Unglück, deshalb bist du krank, deshalb stirbst du. Und du stirbst bald, wenn du dich nicht änderst, hat sie gesagt. Ich hörte es jetzt deutlich, deutlicher als in dem Augenblick, in welchem es von ihr mit der ihr entsprechenden Gefühlskälte gesagt war. Meine Schwester, die Hellsichtige, absurd! Wahrscheinlich hat sie recht, daß es gut wäre, eine zeitlang von Peiskam wegzugehen, aber ich habe keine Garantie, daß ich meine Arbeit an einem anderen Ort anfangen kann, geschweige denn vorwärts bringen. Während des Nachtmahls hatte sie mehrere Male Mendelssohn Bartholdy! ausgerufen, als wollte sie sich mit diesem Ausruf besonders gründlich belustigen, wahrscheinlich, weil sie genau wußte, daß es mich jedesmal zutiefst treffen mußte. Tatsache ist, daß ich ihr gegenüber schon vor weit über zehn Jahren von der Idee, etwas, ich sagte nicht, ein Buch oder eine Schrift, daß ich etwas über Mendelssohn Bartholdy zu schreiben beabsichtigte, gesprochen habe. Damals hatte sie noch niemals etwas von Mendelssohn Bartholdy gehört, jetzt machte sie das unaufhörlich von mir bei jeder Gelegenheit ausgesprochene Wort Mendelssohn Bartholdy verrückt, sie konnte es nicht mehr hören, wenigstens nicht mehr von mir, sie verbot es mir, den Namen Mendelssohn Bartholdy noch einmal in ihrer Gegenwart auszusprechen, wenn Mendelssohn Bartholdy, dann von ihr selbst ausgesprochen, denn das bereitete ihr ein Vergnügen, weil es mich, nach zehnjähriger Erprobung, lächerlich machen mußte. Im übrigen haßt sie die Musikvon Mendelssohn Bartholdy, was ganz zu ihr paßt. Wie kann man diesen Mendelssohn lieben, wenn es Mozart und Beethoven gibt!, hat sie einmal ausgerufen. Es wäre unsinnig gewesen, ihr jemals eine Erklärung für meine Gründe, mich gerade mit Mendelssohn Bartholdy auseinanderzusetzen, zu geben. Mendelssohn Bartholdy war schon viele Jahre lang das Reizwort zwischen uns beiden geworden, an ihm prallten wir aufeinander mit allen unseren fürchterlichen, krankhaften und dadurch qualvollen Gegensätzlichkeiten. Du liebst diesen Mendelssohn Bartholdy ja nur, weil er Jude ist, sagte sie höhnisch. Und vielleicht hatte sie mit dieser unvermittelt zum erstenmal bei ihrem letzten
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