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Beton

Beton

Titel: Beton
Autoren: Thomas Bernhard
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unmöglich. Ich glaubte immer nur vollkommen allein, ohne irgendeinen Menschen meine Geistesarbeit verrichten zu können, was sich als Irrtum herausstellen mußte, aber auch, daß wir tatsächlich einen brauchen, ist wieder ein Irrtum, wir brauchen einen Menschen dazu und wir brauchen keinen und einmal brauchen wir einen und einmal brauchen wir keinen und einmal brauchen wir einen und brauchen gleichzeitig keinen, diese absurdeste aller Tatsachen ist mir jetzt, in diesen Tagen, wieder bewußt geworden; wir wissen nie und nicht, brauchen wir einen oder brauchen wir keinen oder brauchen wir gleichzeitig einen und keinen und weil wir nie und niemals wissen, was wir tatsächlich brauchen, sind wir unglücklich und dadurchunfähig, eine Geistesarbeit dann anzufangen, wann wir es wollen, wann es uns richtig erscheint. Ich habe ja inständig geglaubt, ich brauche meine Schwester, um die Arbeit über Mendelssohn Bartholdy anfangen zu können, als sie dann da war, wußte ich, ich brauche sie nicht, ich kann nur damit anfangen, wenn sie nicht da ist. Aber jetzt ist sie weg und ich kann erst recht nicht mit meiner Arbeit anfangen. Zuerst war der Grund derjenige, daß sie da war, jetzt ist der Grund, daß sie nicht da ist. Einerseits überschätzen wir den Andern, andererseits unterschätzen wir ihn und wir überschätzen fortwährend uns selbst und unterschätzen uns, und wenn wir uns überschätzen sollten, unterschätzen wir uns, wie wir uns unterschätzen sollen, wenn wir uns überschätzen. Und tatsächlich überschätzen wir vor allem die ganze Zeit das, was wir vorhaben, denn in Wahrheit wird jede Geistesarbeit wie jede andere Arbeit, maßlos überschätzt und es gibt keine Geistesarbeit auf der Welt, auf welche diese alles in allem überschätzte Welt nicht verzichten könnte, wie es keinen Menschen und also keinen Geist gibt, auf den in dieser Welt nicht zu verzichten wäre, wie überhaupt auf alles zu verzichten wäre, wenn wir den Mut und die Kraft dazu hätten. Wahrscheinlich fehlt es mir an der alleräußersten Konzentration, dachte ich und ich setzte mich in das untere große Zimmer, das meine Schwester fortwährend, solange ich zurückdenken kann, den Salon genannt hat, was eine fürchterliche Geschmacklosigkeit ist, denn in einem solchen alten Landhaus hat ein Salon nichts zu suchen. Aber auch diese Bezeichnung für das untere Zimmer paßt zu ihr, sie führt überhaupt allzu oft das Wort Salon im Mund, wenngleich sie selbst in Wien naturgemäß tatsächlich einen Salon hat und tatsächlich einen Salon führt, allein wie sie diesen Salon führt, darüber könnte ich eine ganze große Abhandlung schreiben, wenn ich Lust dazu hätte. Ich streckte also, im unteren Zimmer, das von meiner Schwester Salon genannt wird, was mich jedesmal zum Erbrechen reizt, die Beine aus, streckte sie so weit ausals möglich und versuchte, mich auf Mendelssohn Bartholdy zu konzentrieren. Aber natürlich ist es vollkommen falsch, eine solche Arbeit mit: am dritten Feber achtzehnhundertneun wurde undsofort, zu beginnen. Ich hasse Bücher oder Schriften, die mit einem Geburtsdatum anfangen. Überhaupt hasse ich Bücher oder Schriften, in welchen biografisch-chronologisch vorgegangen wird, das erscheint mir als die geschmackloseste, gleichzeitig die ungeistigste Methode. Wie fange ich an? Es ist das Einfachste, sagte ich mir und es ist mir unbegreiflich, daß mir dieses Einfachste bis jetzt nicht gelungen ist. Vielleicht habe ich viel zu viel Notizen gemacht?, viel zu viel über Mendelssohn Bartholdy aufgeschrieben auf diese Hunderte und Tausende von Zetteln, die sich auf meinem Schreibtisch auftürmen, habe ich mich viel zu viel überhaupt mit Mendelssohn Bartholdy, mit meinem Lieblingskomponisten, beschäftigt? Schon oft hatte ich gedacht, ob ich nicht meine Nachforschungen über Mendelssohn Bartholdy überstrapaziert habe und dadurch jetzt unfähig bin, mit meiner Arbeit über Mendelssohn Bartholdy anzufangen? Ein überstrapaziertes Thema kann auf dem Papier nicht mehr verwirklicht werden, sagte ich mir, ich hatte dafür eine Menge Beweise. Ich will nicht aufzählen, was alles mir nicht gelungen ist, weil ich es in meinem Kopf überstrapaziert habe. Andererseits waren ja gerade über Mendelssohn Bartholdy solche jahrelangen, wenn nicht jahrzehntelangen Nachforschungen notwendig. Wenn ich sage, ich habe die ganze Schrift oder was immer für ein Werk im Kopf, kann ich es naturgemäß auf dem Papier nicht mehr verwirklichen. So ist es. Ist
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