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Beton

Beton

Titel: Beton
Autoren: Thomas Bernhard
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ob sie in Wien fühlte, daß ich hier, in Peiskam, ein Thema anzugehen im Begriff bin, wenn ich das Thema angehen will, taucht sie auf und zerstört es mir. Die Menschen sind dazu da, den Geist aufzuspüren und ihn zu vernichten, sie fühlen, ein Kopf ist bereit zu einer Geistesanstrengung und reisen herbei, um diese Geistesanstrengung im Keim zu ersticken. Und ist es nicht meine Schwester, die unglückliche, die bösartige, die hinterhältige, so ist es ein anderer ihrer Wesensart. Wieviele Schriften habe ich angefangen und dann, weil meine Schwester aufgetaucht ist, verbrannt. In den Ofen geworfen bei ihrem Auftreten. Kein Mensch sagt so oft wie sie: ich störe doch nicht?, ein Hohn, wenn das ein Mensch fortwährend auf der Zunge führt, der immer gestört hat und immer stören wird und dessen Lebensaufgabe es zu sein scheint, zu stören, alles und jedes zu stören und damit zu zer stören und letztenendes zu vernichten und immer wieder das zu vernichten, was mir als das allerwichtigste erscheint auf der Welt: ein Geistesprodukt . Schon als wir Kinder waren, hatte sie bei jeder Gelegenheit versucht, mich zu stören, mich aus meinem, wie ich es damals genannt habe, Geistesparadies zu vertreiben. Wenn ich ein Buch in der Hand hatte, verfolgte siemich so lange, bis ich das Buch weglegte, sie hatte ihren Triumph, wenn ich es ihr voller Wut ins Gesicht schleuderte. Ich erinnere mich genau: hatte ich meine Landkarten ausgebreitet auf dem Boden, meine lebenslängliche Leidenschaft, so trat sie, mich im Augenblick erschreckend, aus ihrem Versteck hinter meinem Rücken und gerade auf die Stelle, auf die ich meine ganze Aufmerksamkeit gerichtet hatte, überall, wo ich meine geliebten Länder und Erdteile ausgebreitet habe, um sie mit meinen kindlichen Phantasien anzufüllen, sehe ich ihren plötzlich und bösartig daraufgesetzten Fuß. Schon mit fünf, sechs Jahren hatte ich mich in unseren Garten zurückgezogen mit einem Buch, einmal war es, ich erinnere mich deutlich, ein blaueingebundener Band mit Gedichten von Novalis gewesen aus der großväterlichen Bibliothek, in welchem ich, ohne ganz eigentlich zu verstehen, was in ihm gedruckt gewesen war, mein ganzes Sonntagnachmittagsglück herausgelesen hatte, Stunde um Stunde, bis mich meine Schwester ausfindig machte und mit Geschrei aus dem Gebüsch stürzte und mir das Novalis-Buch entriß. Unsere jüngere Schwester war ganz anders, aber sie ist seit dreißig Jahren tot und es ist unsinnig, sie heute mit meiner älteren zu vergleichen, die kränkelnde und kranke und schließlich tote, mit der immer gleich gesunden, alles um sie herum beherrschenden. Auch ihr Mann hatte sie nur zweieinhalb Jahre ausgehalten, dann flüchtete er aus ihrer Umklammerung nach Südamerika, nach Peru, um sich nie wieder bei ihr zu melden. Was sie anrührte, zerstörte sie und sie hat zeitlebens versucht, mich zu zerstören. Zuerst unbewußt, später bewußt, hatte sie alles darauf angelegt, mich zu vernichten. Bis zum heutigen Tag mußte ich mich gegen diesen unbändigen Vernichtungswillen meiner älteren Schwester wehren und ich weiß gar nicht, wie es mir bis heute gelungen ist, ihr zu entkommen. Sie tritt auf, wann sie will, sie geht, wann sie will, sie tut, was sie will. Sie heiratete den Realitätenvermittler, ihren Mann, um ihn nach Peru zu vertreiben und das Realitätenvermittlungsgeschäftzur Gänze an sich zu reißen. Sie ist ein Geschäftsmensch, darauf war sie schon als ganz kleines Kind angelegt, auf die Geistesverfolgung und die mit dieser eng einhergehende Geldvermehrung. Daß wir dieselbe Mutter haben, habe ich nie begreifen können. Jetzt war sie schon beinahe vierundzwanzig Stunden aus dem Haus und beherrschte mich immer noch. Ich konnte mich ihr nicht entziehen, ich versuchte es verzweifelt, aber es gelang mir nicht. Bei dem Gedanken, daß sie bis heute im Schlafwagen grundsätzlich nur mit den eigenen Leintüchern reist, graust es mich. Ich riß zum drittenmal die Fenster auf, durchlüftete das ganze Haus bis es die hereingebrochene Kälte zu einem einzigen Eiskasten gemacht hatte, in welchem ich zu erfrieren drohte; hatte ich zuerst die Angst gehabt, ersticken zu müssen, so ängstigte mich jetzt der Gedanke, erfrieren zu müssen. Und alles wegen dieser Schwester, unter deren Einfluß ich zeitlebens zu ersticken und zu erfrieren drohte. Tatsächlich liegt sie in ihrer Wiener Wohnung bis halbelf Uhr vormittags im Bett und geht erst gegen halbzwei Uhr ins Imperial oder Sacher
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